Sherlock Holmes - gesammelte Werke
»dass ich Mr Oldacres Verhältnisse absolut nicht gekannt habe. Sein Name war mir allerdings bekannt, weil meine Eltern vor vielen Jahren mit ihm verkehrt hatten, sich später aber von ihm zurückgezogen haben. Ich war daher gestern Nachmittag nicht wenig überrascht, als er in meinem Büro erschien. Aber ich war noch mehr überrascht, als er mir den Grund seines Besuches mitteilte. Er hatte mehrere beschriebene Blätter aus einem Notizbuch in der Hand – hier sind sie.« Er legte sie vor uns auf den Tisch.
»›Das ist mein Testament‹, sagte er. ›Ich bedarf Ihrer Hilfe, Mr Farlane, damit es in die vorschriftsmäßige gesetzliche Form gebracht wird. Ich will mich unterdessen setzen!‹
Ich nahm die Abschrift vor, und Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich merkte, dass er mir unter einigen Vorbehalten sein ganzes Vermögen vermachte. Er war ein eigenartiger, kleiner, zappeliger Mann mit grauem Haar und weißen Augenwimpern, und als ich zu ihm aufblickte, sah er mich vergnügt an. Ich traute meinen Sinnen kaum, als ich seine Bestimmungen las. Auf meine verwunderten Fragen antwortete er mir jedoch, er sei Junggeselle und habe keine lebenden Verwandten, er habe in seiner Jugend meine Eltern sehr gut gekannt und von mir stets als von einem ordentlichen jungen Mann gehört, sodass er versichert sein könne, dass sein Geld in gute Hände käme. Ich konnte nur ein paar Worte des Dankes stammeln. Das Testament wurde gesetzmäßig geschlossen und unterzeichnet, und mein Schreiber fungierte als Zeuge. Es steckt in diesem blauen Umschlag hier in meiner Tasche. Die Zettel enthalten, wie ich schon gesagt habe, nur den Entwurf des Mr Oldacre. Er teilte mir dann weiter mit, dass er noch verschiedene Schriftstücke – Mietkontrakte, Eigentumsurkunden, Hypotheken und sonstige Papiere, in die ich Einsicht nehmen müsse, zu Hause in seiner Wohnung habe. Er bat mich, zu diesem Zweck gleich am Abend zu ihm nach Norwood hinauszukommen und das Testament mitzubringen, damit alles geordnet würde; er könnte eher keine Ruhe finden. ›Sagen Sie Ihren Eltern kein Wort, mein Lieber, bis die Angelegenheit ganz geregelt ist. Wir wollen ihnen dann eine kleine Überraschung bereiten.‹ Auf dieser Forderung bestand er sehr hartnäckig und nahm mir mein Wort ab.
Sie können sich denken, Mr Holmes, dass ich keine Lust hatte, ihm seine Bitten abzuschlagen. Er wollte mir wohl, und ich hatte daher nur das Bestreben, seinen Wünschen bis ins Kleinste zu entsprechen. Ich telegrafierte nach Hause, dass ich am Abend ein wichtiges Geschäft vorhabe und nicht wüsste, ob ich kommen könnte. Mr Oldacre hatte mich für neun Uhr zum Essen eingeladen, weil er kaum vor dieser Stunde zu Hause sein würde. Es war nicht ganz leicht, seine Wohnung zu finden, sodass es gegen halb zehn wurde, ehe ich sie erreichte. Ich traf ...«
»Einen Augenblick!«, unterbrach ihn Holmes. »Wer öffnete Ihnen die Tür?«
»Eine Frau in mittleren Jahren, vermutlich seine Haushälterin.«
»Dieselbe hat wahrscheinlich der Polizei auch Ihren Namen angegeben?«
»Doch wohl«, antwortete Farlane.
»Bitte weiter.«
Unser Klient wischte sich den Schweiß von der Stirn und fuhr dann fort:
»Diese Frauensperson führte mich in ein Empfangszimmer, wo ein frugales Abendbrot aufgetragen war. Nach dem Essen nahm mich Mr Oldacre mit in sein Schlafzimmer, wo ein schwerer Geldschrank stand. Er schloss auf und nahm eine Menge Papiere heraus, die wir zusammen durchgingen. Es dauerte bis zwischen elf und zwölf Uhr, ehe wir fertig wurden. Er sagte dann zu mir, wir dürften die Wirtschafterin nicht stören, und geleitete mich an das Balkonfenster, das während der ganzen Zeit offen gestanden hatte.«
»War die Jalousie heruntergelassen?«, fragte Holmes.
»Ich bin nicht ganz sicher, glaube aber, dass sie nur halb unten war. Jawohl, ich entsinne mich, wie er sie aufzog, um das Fenster aufmachen zu können. Ich hatte meinen Stock noch nicht. Er sagte jedoch: ›Schadet nicht, mein Lieber; ich werde Sie hoffentlich in der nächsten Zeit häufiger bei mir sehen, ich heb ihn auf, bis Sie wiederkommen.‹ Ich ließ ihn also zurück. Der Schrank stand noch offen und die Papiere lagen, in Bündel zusammengeschnürt, auf dem Tisch, als ich das Zimmer verließ. Es war so spät, dass ich nicht mehr nach Blackheath zurück konnte. Ich blieb daher die Nacht in einem nahen Hotel und ahnte nichts Böses, bis ich heute früh die schreckliche Geschichte in der Zeitung las.«
»Wollen Sie
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