Sherlock Holmes - gesammelte Werke
wiederholte ich mechanisch.
»Das ist die Entscheidung«, sagte Holmes.
In seiner Stimme fiel mir etwas auf. Ich drehte mich um und sah ihn an. Sein Ausdruck war vollständig verändert. Er verriet innere Freude. Die Augen glänzten wie Sterne. Mir schien es, als ob er gewaltsam das Lachen unterdrücken müsste.
»Herr des Himmels!«, rief er endlich aus. »Wer hätte so was gedacht? Wie einen das Aussehen eines Menschen doch täuschen kann, wahrhaftig! Allem Anschein nach war er so ein netter Mann! Es wird eine Lehre für uns sein, unserem eigenen Urteil nicht allzu sehr zu vertrauen, nicht wahr Lestrade?«
»Allerdings, Mr Holmes; es gibt Leute, die ein bisschen zu selbstbewusst, von der Richtigkeit ihrer Auffassung zu sehr eingenommen sind«, antwortete Lestrade. »Der trat so unverfroren und scheinheilig auf, dass man’s ihm wirklich nicht zugetraut hätte.«
»Und wie fürsorglich er gehandelt hat, indem er seinen rechten Daumen an die Wand drückte, als er den Hut vom Haken nahm! Und wie natürlich das außerdem ist, wenn man genauer darüber nachdenkt!« Holmes war äußerlich ruhig, während er so sprach, aber einem genauen Kenner wie mir konnte die unterdrückte Erregung nicht verborgen bleiben. »Übrigens, Mr Lestrade, wer hat denn diese großartige Entdeckung eigentlich gemacht?«
»Die Haushälterin hat den Polizisten, der die Nachtwache hatte, darauf aufmerksam gemacht.«
»Wo befand er sich während der Nacht?«
»Er wachte im Schlafzimmer, wo das Verbrechen begangen worden ist, und passte auf, dass alles unberührt liegen blieb.«
»Aber warum ist dieses Zeichen nicht schon gestern bemerkt worden?«
»Weil wir keinen besonderen Grund hatten, dieses Vorzimmer eingehender zu untersuchen. Außerdem ist es an keiner auffallenden Stelle, wie Sie sehen.«
»Nein, nein, allerdings nicht. Und es besteht vermutlich doch kein Zweifel, dass es gestern schon dort war?«
Lestrade sah Holmes an, als ob er ihn für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Ich muss gestehen, dass ich selbst über seinen guten Mut und über seine Bemerkungen erstaunt war.
»Es scheint mir beinahe, als ob Sie glaubten, dass Farlane im Dunkel der Nacht aus dem Gefängnis hierher geeilt sei, um sich selbst zu bezichtigen«, antwortete Lestrade nach einiger Zeit auf Holmes’ merkwürdige Frage. »Ich überlasse jedem Sachverständigen die Entscheidung, ob das sein Daumenabdruck ist oder nicht.«
»Zweifelsohne ist es sein Daumenabdruck.«
»Nun, das genügt mir«, sagte Lestrade. »Ich bin kein Theoretiker, Mr Holmes, ich bin ein Praktiker, und wenn ich die Beweismittel habe, ziehe ich meine Schlüsse daraus. Sollten Sie mir später noch etwas mitzuteilen haben, so finden Sie mich im Empfangszimmer; ich will dort meinen Bericht niederschreiben.«
Holmes hatte seinen seelischen Gleichmut wiedergefunden, aber ich sah ihm an, dass ihm immer noch der Schalk im Nacken saß.
»In der Tat, die Sache hat eine sehr schlimme Wendung genommen, nicht wahr, Watson?«, sagte er zu mir, als wir allein waren. »Und doch gibt es einzelne Punkte, von denen noch Hoffnungsstrahlen für unseren Klienten ausgehen.«
»Das freut mich ungemein«, antwortete ich von Herzensgrund. »Ich fürchtete, es sei ganz aus mit ihm.«
»Das möchte ich noch nicht sagen, mein lieber Watson, denn Lestrades Beweis hat tatsächlich eine Lücke, die für unseren Freund von größter Wichtigkeit ist.«
»Wirklich, Holmes?! Die wäre?«
»Das ist der Umstand, dass ich weiß, dass dieser Flecken noch nicht dort war, als ich gestern diesen Vorraum untersuchte – kommen Sie, Watson, wir wollen jetzt einen kleinen Spaziergang draußen in der Sonne machen.«
Ich begleitete ihn. Im Kopf war ich ziemlich wirr, aber im Herzen hatte ich neue Hoffnung. Wir gingen im Garten umher. Holmes nahm das Haus von allen Seiten genau in Augenschein und zeigte ein auffallendes Interesse an der Bauart. Dann ging er hinein und untersuchte das ganze Gebäude vom Grund bis zum Dach. Die meisten Räume waren unmöbliert, aber Holmes besah sie sich doch. Endlich auf dem obersten Treppenflur, auf den drei unbenutzte Zimmer mündeten, zeigte er eine grenzenlose Freude.
»Dieser Fall ist wirklich einzig in seiner Art, Watson«, sagte er. »Ich glaube, es ist nun an der Zeit, dass wir den guten Lestrade ins Vertrauen ziehen. Er hat sich auf unsere Kosten ein bisschen lustig gemacht, nun, wenn meine Ansicht sich als richtig erweist, können wir’s ihm jetzt heimzahlen. Oh ja, ich sehe, wir
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