Sherlock Holmes - gesammelte Werke
wollten einen unschuldigen Mann an den Galgen bringen. Wenn dieser Herr nicht gewesen wäre, würde es Ihnen wahrscheinlich auch gelungen sein.«
Das traurige Geschöpf fing an zu winseln.
»Sicher, Herr, es war nur ein Spaß.«
»Ein eigentümlicher Spaß! Sie sollen nicht darüber zu lachen haben, dafür bin ich Ihnen gut. Nehmt ihn mit hinunter und haltet ihn im Wohnzimmer fest, bis ich komme. – Mr Holmes«, fuhr er fort, als die Schutzleute hinuntergegangen waren, »ich konnte in Gegenwart der Leute nicht sprechen, aber im Beisein des Dr. Watson erkläre ich frei heraus: Das ist der feinste Streich, den Sie je ausgeführt haben – es ist mir freilich noch ein Rätsel, wie Sie’s angefangen haben – Sie haben einen Unschuldigen gerettet und einen großen Skandal verhütet, der meinen Ruf bei der Polizei untergraben haben würde.«
Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter.
»Ihr Renommee in Scotland Yard soll durch diesen Fall bedeutend gehoben werden, mein guter Herr. Sie brauchen nur ein paar Stellen in Ihrem Bericht zu ändern, und alle Welt wird sagen, dass es schier unmöglich ist, dem Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.«
»Wünschen Sie denn gar nicht, dass Ihr Name erwähnt wird?«, fragte Lestrade verwundert.
»Durchaus nicht. Diese Tat birgt ihren Lohn in sich selbst. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich meinem eifrigen Geschichtsschreiber die Erlaubnis erteile, die Genugtuung haben, sie gedruckt zu sehen – wie, Watson? Nun wollen wir uns mal das Nest ansehen, in dem die Ratte gesteckt hat.«
Es war ein sechs Fuß langer Bretterverschlag, von der Breite des Flurs; er war genau wie die übrigen Wände tapeziert und hatte einen unsichtbaren Zugang. Durch einige Ritze unter der Dachrinne drang spärliches Licht hinein. Darin befanden sich ein paar kümmerliche Möbelstücke, eine Anzahl Bücher und Papiere und ein Vorrat von Nahrungsmitteln und Wasser.
»Das ist der Vorteil, wenn man Baumeister ist«, sagte Holmes beim Heraustreten. »Er war imstande, sein Versteck ohne fremde Beihilfe herzurichten – natürlich abgesehen von der prächtigen Wirtschafterin, die ich gleichfalls Ihrer Obhut anempfehlen möchte, Lestrade.«
»Sie soll entschieden ihrem Herrn das Geleit geben, Mr Holmes. Aber vor allen Dingen sagen Sie mir: Wie haben Sie Kenntnis von diesem Raum erlangt?«
»Ich kam zu dem Schluss, dass der Besitzer noch im Haus sein müsste. Als ich nun die Korridore abschritt und fand, dass der obere sechs Fuß kürzer war als der entsprechende untere, war es mir ganz klar, wo er steckte. Wir hätten natürlich ebenso gut gleich hineingehen und ihn festnehmen können, aber es machte mir mehr Vergnügen, ihn selbst herauskommen zu lassen; außerdem wollte ich mich durch die Geheimnistuerei für Ihre Spöttelei von heute morgen etwas entschädigen, Mr Lestrade.«
»Na, die haben Sie redlich wettgemacht. Aber wie in aller Welt kamen Sie auf den Gedanken, dass er überhaupt im Haus verborgen sei?«
»Der Daumenabdruck sagte mir’s, Lestrade. Sie meinten, er wäre das Endglied der Kette; das war er auch, nur in einem ganz anderen Sinn. Ich wusste nämlich, dass er am Tag vorher noch nicht dort gewesen war. Ich schenke allen Einzelheiten eine weitgehende Beachtung, wie Sie wohl schon bemerkt haben werden, und ich hatte den Vorraum gründlich besichtigt und keinen Flecken an der Wand gefunden. Er musste also ohne Zweifel erst während der Nacht hingekommen sein.«
»Aber wie?«
»Sehr einfach. Als die Briefschaften versiegelt wurden, hat der junge Farlane einmal seinen Daumen als Petschaft benutzt. Es ist vielleicht in der Eile und ganz zufällig geschehen, sodass sich der junge Herr wohl selbst nicht mehr daran erinnern kann. Sehr wahrscheinlich ist es so unabsichtlich gewesen, dass auch Oldacre nicht gleich bedacht hat, wozu es ihm später nützen sollte. Als er in seinem Bau den Fall genauer überlegt hat, wird ihm erst eingefallen sein, was für ein absolut zuverlässiges Beweismittel er durch Benutzung dieses Abdrucks der Polizei liefern könnte. Auf die einfachste Art der Welt konnte er einen Wachsabdruck davon machen, ihn mit einem Tropfen Blut von einem Stecknadelstich benetzen und über Nacht den Flecken an der Wand erzeugen. Ob er es nun selbst getan hat oder die Haushälterin, das weiß ich nicht, ist auch ziemlich gleichgültig. Dagegen gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, dass Sie das Siegel mit dem Daumen finden, wenn Sie die Briefschaften
Weitere Kostenlose Bücher