Sherlock Holmes - gesammelte Werke
es immer wieder gelesen hatte. »Mr Overton war augenscheinlich sehr aufgeregt, als er’s abschickte, und daher etwas verwirrt. Nun, ich glaube, er wird gleich selbst ankommen und dann werden wir ja alles erfahren. Ich will einstweilen die ›Times‹ durchgucken. Selbst die unbedeutendste Aufgabe würde mir in dieser flauen Zeit willkommen sein.«
Wir hatten tatsächlich schon länger keine richtige Beschäftigung mehr gehabt, und ich hatte diese Perioden der Untätigkeit fürchten gelernt, denn mein Freund war eine so rührige Natur, dass es gefährlich für ihn war, wenn er nicht die nötige Arbeit hatte. Seit Jahren hatte ich ihm den Genuss narkotischer Mittel allmählich abgewöhnt, wodurch früher einmal seine ganze Laufbahn beinahe unterbrochen worden wäre. Nun wusste ich zwar, dass er unter gewöhnlichen Umständen nach diesen Reizmitteln kein Verlangen mehr trug, aber ich war mir ebenso klar darüber, dass der Feind nicht tot war, sondern nur schlief; und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass dieser Schlaf nicht sehr fest und das Erwachen sehr nahe war, sobald Perioden der Untätigkeit kamen. Dann zeigte sein asketisches Gesicht große Niedergeschlagenheit, und seine tiefen, unergründlichen Augen nahmen den Ausdruck des dumpfen Dahinbrütens an. Ich segnete deshalb diesen Mr Overton, wer er auch sein mochte, weil er durch seine sonderbare Botschaft diese unheimliche Ruhe unterbrochen hatte, welche für meinen Freund gefährlicher war als alle Stürme seines bewegten Lebens.
Wie wir erwartet hatten, blieb der Absender der Depesche nicht lange aus. Mr Cyril Overton vom Trinity College in Cambridge war ein riesenhafter junger Mann, er hatte einen enormen Knochenbau und eine entsprechende Muskulatur; seine breiten Schultern füllten unsere Tür vollkommen aus. Dabei hatte er ein ganz nettes, sympathisches Gesicht, dem man freilich die Unruhe auf den ersten Blick ansah.
»Mr Sherlock Holmes?«
Mein Freund verbeugte sich.
»Ich komme eben von Scotland Yard herauf, Mr Holmes. Ich sprach den Inspektor Hopkins. Er riet mir, mich an Sie zu wenden. Er sagte, der Fall sei, soweit er ihn beurteilen könne, eher etwas für Sie als für die reguläre Polizei. Wenn Sie mir helfen könnten, Mr Holmes ... Ich befinde mich in einer fatalen Lage ...«
»Bitte nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was los ist.«
»Es ist schrecklich, Mr Holmes, einfach schrecklich! Ich wundere mich, dass ich noch keine grauen Haare habe. Godfrey Staunton – Sie haben von ihm gehört, selbstverständlich? Beim ganzen Spiel dreht sich alles um ihn. Lieber sollen mir drei andere fehlen als gerade er, keiner reicht ihm das Wasser. Er ist das Haupt und hält das ganze Spiel zusammen. Was soll ich nun anfangen? Das sollen Sie mir sagen, Mr Holmes. Da ist freilich noch Moorhouse, der erste Reservemann, er ist aber nur halb trainiert. Er hat ja ’nen guten Fuß, aber nicht die nötige Überlegung. Ei, Morton oder Johnson, die berühmten Oxforder Fußballspieler, würden ihn schön schlagen. Und Stevenson wäre ja fest genug, der ist aber auf seinem jetzigen Posten ganz unentbehrlich. Nein, Mr Holmes, wir sind verloren, wenn Sie mir nicht helfen können, Godfrey Staunton aufzufinden.«
Holmes hatte den Worten des Mr Overton mit Interesse zugehört. Der außerordentliche Eifer und Ernst, womit sie hervorgestoßen wurden, und der Nachdruck, den der Sprecher jedem einzelnen Punkt durch einen gewaltigen Schlag mit seiner muskulösen Hand auf seine Knie verlieh, schienen ihn zu amüsieren.
Als unser Besucher mit seiner Erklärung fertig war, holte Holmes den Band mit S seines selbstangelegten Lexikons vom Bücherregal herunter. Zum ersten Mal sah er vergeblich in diesem reichhaltigen Sammelwerk nach.
»Ich habe hier einen Arthur H. Staunton, einen vielversprechenden Falschmünzer«, sagte er, »und den Henry Staunton, dem ich zum Galgen verholfen habe, aber Godfrey Staunton ist mir ein unbekannter Name. Wer und was ist denn dieser Staunton?«
Nun machte unser Klient ein erstauntes Gesicht.
»Aber Mr Holmes, ich glaubte, Sie wüssten alles Mögliche«, sagte er. »Wenn Sie nie was von Godfrey Staunton gehört haben, dann kennen Sie womöglich auch Cyril Overton nicht?«
Holmes schüttelte lächelnd den Kopf.
»Unglaublich!«, rief der Athlet. »Ei, ich war der erste Sieger für England gegen Wales und habe schon ein Jahr an der Spitze des akademischen Fußballklubs gestanden. Aber das ist noch gar nichts gegen Godfrey Staunton, den Sieger
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