Sherlock Holmes - gesammelte Werke
von Cambridge, Blackheath und von fünf internationalen Fußballwettspielen. Gütiger Gott! Mr Holmes, wo sind Sie eigentlich auf der Welt gewesen?«
Holmes lachte über das kindliche Staunen des jungen Wettkämpfers.
»Sie leben in einer ganz anderen Welt als ich, Mr Overton, in einer angenehmeren und gesunderen Atmosphäre. Meine Beziehungen erstrecken sich auf viele Gesellschaftsschichten, aber, ich kann wohl sagen glücklicherweise, nicht in die Kreise des Liebhabersports, der ein gutes und gesundes Zeichen ist für die innere Kraft des englischen Volkes. Doch beweist mir Ihr unerwarteter Besuch, dass es auch in dieser frischen Welt für mich zu tun gibt; ich bitte Sie nun, mein lieber Herr, mir langsam und ganz ruhig den Sachverhalt genau anzugeben und mir zu sagen, in welcher Weise ich Ihnen behilflich sein kann. Ihre bisherigen Darstellungen machen einen etwas konfusen Eindruck.«
Der junge Mr Overton war ein Mann, der mehr an den Gebrauch seiner Muskeln als an den seines Gehirns gewöhnt war. Er machte ein ziemlich verlegenes Gesicht, aber nach und nach, mit vielen Wiederholungen und Unklarheiten, die ich hier weglassen will, brachte er Folgendes heraus.
»Die Sache ist, wie Sie sehen werden, die, Mr Holmes. Wie ich gesagt habe, bin ich Vorstand des Fußballklubs in der Universitätsstadt Cambridge, und Godfrey Staunton ist mein bester Mann. Morgen spielen wir gegen Oxford, und zwar hier in London. Gestern sind wir alle hierher gefahren und haben uns in Bentleys Privathotel einquartiert. Um zehn Uhr machte ich die Runde und sah nach, ob alle Mitglieder zur Ruhe gegangen waren, denn ich halte ausreichenden Schlaf für unerlässlich vor einem Wettspiel. Ich sprach mit Godfrey noch ein paar Worte, ehe er sich hinlegte. Er kam mir blass und aufgeregt vor. Ich fragte ihn, was er habe. Er antwortete, es sei weiter nichts – nur ein bisschen Kopfschmerzen. Ich wünschte ihm Gute Nacht und ging hinaus. Aber Godfrey gefiel mir gar nicht, denn wenn man sich nicht wohlfühlt, und soll doch alle seine Kräfte zur Verfügung haben, vollends wenn einer die Hauptperson im Spiel ist – da konnte die ganze Sache für Cambridge recht brenzlig werden. Nach einer halben Stunde sagt mir der Portier, dass ein Mann mit einem wilden Bart mit einem Brief für Mr Staunton draußen sei. Da er noch auf war, wurde ihm das Schreiben auf sein Zimmer gebracht. Godfrey las es und sank, wie vom Schlag gerührt, auf einen Stuhl. Der Portier war so erschrocken, dass er mich holen wollte, aber Godfrey hielt ihn zurück, ließ sich einen Schluck Wasser geben und stand wieder auf. Dann ging er die Treppe hinunter, wechselte noch ein paar Worte mit dem Überbringer des Briefes, der im Hausflur wartete, und ging mit ihm zusammen weg. Als ihnen der Portier zum letzten Mal nachblickte, liefen sie schon die Straße hinunter. Heute Morgen war Godfreys Zimmer leer, sein Bett war unbenutzt, und auch sonst lag noch alles an derselben Stelle wie am Abend. Er war auf eine plötzliche Nachricht hin mit diesem Unbekannten weggegangen, und wir haben seitdem kein Wort von ihm gehört. Ich glaub’ nicht, dass er je wiederkommt. Er war ein großer Sportsfreund, der Godfrey, mit Leib und Seele, und er würde sein Trainieren nicht unterbrochen und seinen Vorstand im Stich gelassen haben, wenn er nicht einen sehr triftigen Grund gehabt hätte. Nein, ich hab das Gefühl, als ob er für immer fort wäre und wir ihn nie wiedersehen würden.«
Holmes hatte dieser merkwürdigen Erzählung aufmerksam zugehört.
»Was haben Sie dann getan?«, fragte er am Ende.
»Ich telegrafierte nach Cambridge, um zu erfahren, ob man dort was von ihm gehört hätte. Ich bekam die Antwort, kein Mensch hätte ihn gesehen.«
»Konnte er am selben Abend noch nach Cambridge zurückfahren?«
»Ja, es fährt noch ein später Zug – um viertelzwölf.«
»Aber soweit Sie haben in Erfahrung bringen können, hat er ihn nicht benutzt?«
»Nein, es hat ihn niemand gesehen.«
»Was taten Sie nachher?«
»Ich depeschierte an Lord Mount-James.«
»Warum an Lord Mount-James?«
»Godfrey hat keine Eltern mehr, und Lord Mount-James ist sein nächster Verwandter – sein Onkel, glaube ich.«
»Wahrhaftig. Das lässt die Sache schon in einem neuen Licht erscheinen. Lord Mount-James ist einer der reichsten Männer in England.«
»Das hat mir Godfrey auch gesagt.«
»Und Ihr Freund war wirklich nahe verwandt mit ihm?«
»Jawohl, er war sein Erbe, und der alte Knabe ist nahe an die achtzig
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