Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Alte saß mit offenem Mund in seinem Stuhl und starrte meinen Freund groß an. Staunen und Furcht malten sich auf seinem ausdrucksvollen Gesicht. Dann zuckte er mit einiger Anstrengung die Schultern und brach in ein falsches Lachen aus.
»Das ist alles sehr schön, Mr Holmes«, erwiderte er dann. »Aber Ihr Beweis hat eine Lücke. Ich war selbst in meinem Zimmer hier und bin den ganzen Tag nicht hinausgekommen.«
»Das weiß ich wohl, Professor Coram.«
»Und Sie glauben wohl, dass ich hier im Bett liegen könnte, ohne gewahr zu werden, dass ein Weib in mein Zimmer tritt?«
»Das habe ich nicht gesagt. Sie wussten es. Sie haben mit ihr gesprochen. Sie haben sie gekannt, Sie wollen ihr zur Flucht verhelfen.«
Der Professor fing wieder laut zu lachen an. Er war aufgestanden, seine Augen funkelten wild vor Wut.
»Sie sind toll!«, schrie er. »Sie sprechen wie ein Verrückter. Ich hälfe ihr zur Flucht! Wo ist sie denn nun?«
»Dort«, sagte Holmes und zeigte auf einen hohen Bücherschrank in der Ecke.
Der Alte rang die Hände, ein krampfhaftes Zucken ging über sein grimmes Gesicht und er sank zurück in seinen Stuhl. Im selben Moment ging die Tür des bezeichneten Bücherschranks auf und ein Weib stand vor uns. »Sie haben recht!«, rief sie mit merkwürdigem, fremdländischem Klang. »Sie haben recht! Ich bin hier.«
Sie war mit Staub und Spinnengewebe bedeckt von den Wänden ihres Verstecks. Auch im Gesicht hatte sie Schmutzstreifen. Aber auch davon abgesehen, konnte sie nie hübsch gewesen sein. Sie zeigte genau die körperlichen Merkmale, die Holmes auf den Zettel geschrieben hatte, hinzu kam nur noch ein langes, vorstehendes Kinn. Teils wohl infolge ihrer Kurzsichtigkeit, teils infolge des jähen Wechsels zwischen Dunkelheit und Licht, stand sie wie geblendet und blinzelte unaufhörlich, um zu erkennen, wer und wo wir wären. Und doch, trotz all dieser körperlichen Nachteile lag eine gewisse Vornehmheit in dem Benehmen dieses Weibes, eine Hochherzigkeit in dem unschönen Kinn und dem erhobenen Kopf, der einem eine Art Achtung und Bewunderung abnötigte. Hopkins hatte sie am Arm gefasst und sie als seine Gefangene erklärt, aber sie schob ihn sanft zur Seite, und zwar mit einer überlegenen Würde, die Gehorsam erzwingt. Der Alte lag in den Stuhl zurückgelehnt, sein Gesicht zuckte, und die Augen waren starr auf die Frau gerichtet.
»Jawohl, ich bin Ihre Gefangene«, sagte sie. »Von meinem Platz aus konnte ich alles hören, und ich weiß, dass Sie die Wahrheit herausgebracht haben. Ich gestehe alles ein. Ich habe den jungen Mann getötet. Aber Sie haben recht, dass es ein Unglücksfall war. Ich wusste noch nicht einmal, dass es ein Messer war, was ich in meiner Hand hatte, denn in meiner Verzweiflung erwischte ich irgendetwas vom Tisch und schlug nach ihm, damit er mich gehen lassen sollte. Ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht.«
»Gnädige Frau«, bemerkte Holmes, »ich zweifle nicht daran. Mir scheint, Sie werden unwohl.«
Sie hatte sich verfärbt, die Totenblässe trat durch die schwarzen Schmutzstriche auf ihrem Gesicht noch stärker hervor. Sie setzte sich auf den Bettrand und fuhr dann fort:
»Ich habe nur noch wenig Zeit hier, aber Sie sollen die volle Wahrheit von mir erfahren. Ich bin dieses Mannes Frau. Er ist kein Engländer. Er ist ein Russe. Seinen Namen will ich nicht nennen.«
Jetzt rührte sich der Greis zum ersten Mal. »Gott segne dich, Anna!«, rief er. »Gott segne dich!«
Sie warf ihm einen Blick größter Verachtung zu. »Warum klammerst du dich so krampfhaft an dein elendes Leben, Sergius?«, erwiderte sie. »Es hat so viele unglücklich gemacht und niemanden glücklich – dich selbst nicht mal. Doch ist es nicht meine Sache, dich zu veranlassen, den schwachen Lebensfaden vor dem normalen Ende durchzuschneiden. Ich habe schon genug auf mich geladen, seitdem ich diese verfluchte Schwelle übertreten habe. Aber ich muss reden, es wird sonst zu spät.
Ich habe Ihnen gesagt, meine Herren, dass ich die Frau dieses Mannes bin. Er war fünfzig und ich ein törichtes Mädchen von zwanzig, als wir heirateten. Es war in einer russischen Stadt, einer Universitätsstadt – den Namen will ich nicht nennen.«
»Gott vergelt dir’s, Anna!«, murmelte wieder der Alte.
»Wir waren Reformisten – Revolutionäre – Nihilisten, Sie verstehen mich. Er und ich und viele andere. Dann kam eine Zeit der Verfolgung; ein Polizeibeamter wurde getötet, es fanden viele Verhaftungen statt, man
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