Sherlock Holmes - gesammelte Werke
letztwilligen Verfügungen.«
»Das ist sehr interessant.«
»Ich will hoffen«, sagte Doktor Mortimer, »Sie sehen nicht mit misstrauischen Augen auf einen jeden, der von Sir Charles mit einem Vermächtnis bedacht worden ist; denn mir hat er auch tausend Pfund hinterlassen.«
»Was Sie nicht sagen! Und hat er auch sonst noch anderen Leuten etwas ausgesetzt?«
»Viele unbedeutende Beträge für einzelne Persönlichkeiten und viele größere für öffentliche Wohltätigkeitseinrichtungen. Der ganze Rest fiel an Sir Henry.«
»Und wie viel betrug dieser Rest?«
»Siebenhundertundvierzigtausend Pfund.«
Holmes zog überrascht die Augenbrauen empor und sagte:
»Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um eine solche Riesensumme handelte.«
»Sir Charles galt für reich, aber wir wussten selbst nicht, wie ungeheuer reich er war, bevor wir an die Aufstellung seiner Kapitalien kamen. Der Gesamtwert des Vermögens belief sich auf beinahe eine Million.«
»Alle Wetter! Das ist ein Einsatz, um welchen wohl jemand ein verzweifeltes Spiel wagen kann. Noch eine Frage, Herr Doktor! Angenommen, unserem jungen Freund hier stieße etwas zu – verzeihen Sie bitte diese unangenehme Hypothese, Sir Henry! –, wer würde dann das Vermögen erben?«
»Da Sir Charles’ jüngerer Bruder, Rodger Baskerville, unverheiratet gestorben ist, würde der Besitz an die Desmonds kommen. Sie sind entfernte Verwandte. James Desmond ist ein älterer Geistlicher in Westmoreland.«
»Danke. Alle diese Einzelheiten sind von großer Bedeutung. Haben Sie Mr James Desmond persönlich je gesehen?«
»Ja. Er kam einmal herüber, um Sir Charles zu besuchen. Er ist ein Mann von ehrwürdiger Erscheinung und gottseligem Lebenswandel. Ich erinnere mich, dass er sich weigerte, von Sir Charles eine Rente anzunehmen, obwohl dieser sie ihm geradezu aufdrängte.«
»Und dieser Mann von einfachen Lebensgewohnheiten würde also Sir Charles’ Hunderttausende erben.«
»Er würde der Erbe des Landbesitzes sein, weil dieser Familiengut ist. Er würde ebenfalls das Geld erben, wenn nicht etwa der derzeitige Eigentümer anderweitig darüber verfügte, was er natürlich ganz nach seinem Belieben tun kann.«
»Und haben Sie Ihr Testament gemacht, Sir Henry?«
»Nein, Mr Holmes, das habe ich nicht getan. Ich habe keine Zeit dazu gehabt, denn ich erfuhr überhaupt erst gestern, wie die Verhältnisse liegen. Aber nach meinem Gefühl sollte das Geld an den kommen, der Titel und Landbesitz erhält. Wie soll denn der Besitzer den alten Glanz der Baskerville wieder herstellen, wenn er nicht Geld genug hat, um den Besitz in gutem Stand zu halten? Haus, Land und Geld müssen beieinander bleiben.«
»Ganz recht! Nun, Sir Henry, ich bin ebenfalls Ihrer Meinung, dass es sich empfiehlt, wenn Sie unverzüglich nach Devonshire gehen. Nur muss ich einen Vorbehalt machen: Sie dürfen auf keinen Fall allein reisen.«
»Dr. Mortimer fährt mit mir zurück.«
»Aber Dr. Mortimer hat seine Praxis und wohnt ein paar Meilen weit von Ihnen ab. Mit dem allerbesten Willen würde er vielleicht nicht imstande sein, Ihnen zu helfen. Nein, Sir Henry, Sie müssen irgendjemand mitnehmen, einen zuverlässigen Mann, der Ihnen nicht von der Seite geht.«
»Wäre es vielleicht möglich, dass Sie selber mitkämen, Mr Holmes?«
»Wenn es zu einer Krisis kommt, werde ich mich nach Kräften bemühen, persönlich anwesend sein zu können. Aber Sie werden begreifen, dass ich bei meiner ausgebreiteten Praxis und in Anbetracht der fortwährenden Hilfegesuche, die mir von allen Seiten zugehen, unmöglich mich für unbestimmte Zeit von London entfernen kann. Gerade in diesem Augenblick ist einer der ehrwürdigsten Namen Englands bedroht, von einem Erpresser besudelt zu werden, und nur ich kann einen unheilvollen Skandal verhindern. Sie sehen gewiss selber ein, dass ich unmöglich mit nach Dartmoor gehen kann.«
»Wen würden Sie mir also dann empfehlen?«
Holmes legte seine Hand auf meinen Arm und sagte:
»Wenn mein Freund bereit wäre, könnten Sie in einem Augenblick der Bedrängnis keinen besseren Mann an Ihrer Seite haben. Das kann niemand zuversichtlicher behaupten als gerade ich.«
Der Vorschlag kam mir völlig unerwartet, aber bevor ich Zeit hatte etwas zu erwidern, ergriff Baskerville meine Hand und schüttelte sie herzlich, indem er ausrief:
»Das ist wirklich recht freundlich von Ihnen, Herr Doktor! Sie sehen, wie es mit mir steht, und Sie wissen von der ganzen Geschichte ebenso viel wie
Weitere Kostenlose Bücher