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Sherlock Holmes - gesammelte Werke

Sherlock Holmes - gesammelte Werke

Titel: Sherlock Holmes - gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anaconda
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feingeschnittenes Antlitz war so regelmäßig, dass man es hätte für ausdruckslos halten können, wären nicht die schönen Lippen und die lebhaften dunkeln Augen gewesen. Mit ihrer tadellosen Figur und eleganten Toilette war sie in der Tat eine eigenartige Erscheinung auf einem einsamen Moorfußpfad. Ihre Augen folgten ihrem Bruder, als ich mich umdrehte; dann beschleunigte sie ihren Schritt und kam auf mich zu. Ich hatte meinen Hut gelüftet und wollte einige erklärende Worte sagen, aber ihre Anrede lenkte alle meine Gedanken in eine neue Bahn.
    »Reisen Sie ab!«, sagte sie. »Reisen Sie augenblicklich wieder nach London!«
    Ich starrte sie völlig verblüfft und sprachlos an. Ihre Augen blitzten mich an, und sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.
    »Erklärungen kann ich nicht geben.«
    Sie sprach schnell, mit tiefer Stimme, an der ein eigentümliches Lispeln mir auffiel.
    »Um des Himmels willen, tun Sie doch, worum ich Sie bitte! Reisen Sie ab und setzen Sie niemals wieder Ihren Fuß auf das Moor!«
    »Aber ich bin ja gerade erst angekommen!«
    »Mann, Mann!«, rief sie. »Können Sie nicht auf eine Warnung hören, die zu Ihrem eigenen Besten ist? Gehen Sie wieder nach London! Reisen Sie heute Abend noch ab! Entfernen Sie sich unter allen Umständen von diesem Ort ... Schscht! Da kommt mein Bruder. Lassen Sie von meiner Warnung kein Wort gegen ihn verlauten. Wollen Sie so freundlich sein, mir die Orchidee dort hinten zwischen den Schachtelhalmen zu pflücken? Wir sind hier auf dem Moor sehr reich an Orchideen; freilich sind Sie ein bisschen spät im Jahr gekommen, um noch alle Schönheiten unserer Gegend sehen zu können.«
    Stapleton hatte die Jagd aufgegeben und kam mit heißen Wangen und schwerem Atem zu uns zurück.
    »Sieh da, Beryl!«, sagte er, und es kam mir vor, als klänge der Ton seiner Begrüßung nicht gerade sehr herzlich.
    »Nun, Jack, du bist ja recht erhitzt!«
    »Ja, ich war auf der Jagd hinter einem Cyclopides. Er ist sehr selten, besonders im Spätherbst. Schade, dass ich ihn nicht fangen konnte!«
    Er sprach in gleichgültigem Ton, aber seine kleinen, hellen Augen wanderten dabei fortwährend zwischen dem Mädchen und mir hin und her.
    »Sie haben sich selbst bekannt gemacht, wie ich sehe«, fuhr er fort.
    »Ja. Ich sagte gerade zu Sir Henry, er sei ein bisschen spät gekommen, um die eigenartige Schönheit des Moors zu sehen.«
    »Sir Henry? Für wen hältst du denn den Herrn hier?«
    »Ich denke, er muss Sir Henry Baskerville sein.«
    »Nein, nein!«, rief ich. »Ich bin ein schlichter Bürgerlicher; aber ich bin sein Freund. Mein Name ist Dr. Watson.«
    Eine Blutwelle des Ärgers schoss über ihr ausdrucksvolles Gesicht, und sie sagte: »Unser Gespräch war also ein Missverständnis.«
    »Na, zu einem Gespräch hattest du nicht viel Zeit«, bemerkte ihr Bruder, wieder mit einem forschenden Blick.
    »Ich sprach, als wäre Dr. Watson ein Bewohner unserer Gegend statt eines Besuchers«, sagte sie. »Ihm muss es ziemlich gleichgültig sein, ob die Jahreszeit früh oder spät für Orchideen ist ... Aber Sie kommen doch gewiss mit nach Merripit House?«
    Es war nur noch ein kurzer Weg bis zu dem nüchtern aussehenden echten Moorlandhaus, das früher der Gutshof eines wohlhabenden Viehzüchters gewesen, jetzt aber im Innern zu einem modernen Wohnhaus umgebaut war. Ein Obstgarten umgab es, aber die Bäume waren verkümmert und verkrüppelt, und das Ganze machte einen ungemütlichen und melancholischen Eindruck. Der alte verschrumpfte Diener in schlecht sitzender Livree, der uns empfing, passte zu seiner Umgebung.
    Das Haus enthielt indessen geräumige Zimmer, die mit einer Eleganz eingerichtet waren, in der ich den Geschmack einer Dame zu erkennen glaubte. Ich warf durch das Fenster einen Blick auf das unendliche, mit Granitblöcken übersäte Moor, das sich ohne Unterbrechung bis zum fernen Horizont erstreckte, und ich musste unwillkürlich bei mir denken: was kann denn nur einen feingebildeten Mann und ein schönes Mädchen veranlasst haben, sich eine solche Gegend als Wohnort auszusuchen?
    »Nicht wahr, ein sonderbarer Wohnsitz?«, fragte er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Und trotzdem fühlen wir uns hier ganz hübsch glücklich – was, Beryl?«
    »Sehr glücklich«, erwiderte sie; aber ihre Worte klangen nicht eben überzeugend.
    »Ich hatte eine Schule«, fuhr Stapleton fort, »da oben im Norden. Die eintönige Arbeit war für einen Mann von meiner Geistesanlage nicht gerade

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