Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
Beistand geleistet, wohnte seit einiger Zeit in der Nähe von Reigate in Surrey und forderte mich wiederholt auf, ihn doch einmal in seinem Landhaus zu besuchen. Noch kürzlich hatte er geäußert, er würde auch meinen Freund, falls er mich begleiten wollte, sehr gern als Gast bei sich empfangen. Es bedurfte zuerst einiger Überredungskünste, aber als Holmes erfuhr, es sei eine Junggesellenwirtschaft und er könne dort völlige Freiheit haben, ging er auf meine Pläne ein. Etwa eine Woche nach unserer Rückkehr aus Lyon befanden wir uns bereits unter Hayters gastlichem Dach. Der Oberst war ein wackerer alter Krieger, der viel von der Welt gesehen hatte, und meine Erwartung, daß Holmes und er allerlei gemeinsame Anknüpfungspunkte finden würden, ging rasch in Erfüllung.
Am Abend unserer Ankunft saßen wir nach Tische in des Obersten Bibliothek. Holmes lag auf dem Sofa ausgestreckt, während ich mit Hayter die Waffensammlung in seinem Gewehrschrank musterte.
»Es wird gut sein«, sagte er plötzlich, »wenn ich eine von diesen Pistolen mit in mein Schlafzimmer hinaufnehme, zum Schutz gegen einen etwaigen Überfall.«
»Einen Überfall?«
»Ja, wir sind kürzlich hier in nicht geringe Aufregung versetzt worden. Bei dem alten Acton, einem der größten Grundbesitzer der Grafschaft, hat man letzten Montag eingebrochen. Vielen Schaden haben die Diebe nicht angerichtet, aber die Polizei ist ihrer noch nicht habhaft geworden.«
»Hat man keinen Verdacht?«, fragte Holmes mit bedeutsamem Augenzwinkern.
»Bis jetzt nicht«, versetzte der Oberst. »Die Sache ist zu geringfügig und verdient Ihre Aufmerksamkeit nicht, Herr Holmes, nach dem großen internationalen Werk, das Sie vollbracht haben. Es handelt sich nur um ein ganz gewöhnliches Verbrechen.«
»O bitte sehr«, sagte Holmes bescheiden, und doch freute ihn die Anerkennung, denn er lächelte befriedigt. »Hat denn der Fall gar kein besonderes Interesse?«
»Ich glaube kaum. Die Diebe durchsuchten die Bibliothek, fanden aber wenig, was sich der Mühe verlohnte. Sie haben das Unterste zu oberst gekehrt, sämtliche Schubladen aufgebrochen und die Schränke durchwühlt, schließlich aber nur einen Band von Popes Homer, zwei plattierte Leuchter, einen elfenbeinernen Briefbeschwerer, einen kleinen in Holz gefaßten Barometer und eine Rolle Bindfaden mitgenommen.«
»Was für eine merkwürdige Auswahl!«, rief ich.
»Die Kerle haben offenbar das erste beste zusammengerafft, was ihnen unter die Hände kam.«
Holmes brummte etwas auf dem Sofa vor sich hin.
»Die Polizei sollte sich das als Fingerzeig dienen lassen«, sagte er dann. »Es ist doch ganz klar, daß –«
Doch schon hob ich warnend die Hand in die Höhe. »Du bist hier, um dich auszuruhen, alter Junge. Laß dich nur um Gottes willen in keine neue Untersuchung ein, solange deine Nerven noch ganz zerrüttet sind.«
Holmes warf dem Obersten einen drolligen, entsagungsvollen Blick zu und zuckte die Achseln, worauf sich die Unterhaltung wieder in minder gefährlichen Bahnen bewegte.
Es war indessen vom Schicksal bestimmt, daß alle ärztliche Vorsicht vergebens sein sollte. Schon am nächsten Morgen drängte sich uns das Problem von selbst auf, und wir konnten es nicht länger unberücksichtigt lassen. Unser Landaufenthalt erhielt dadurch eine Bedeutung, die kein Mensch vorausgesehen hätte.
Wir saßen noch beim Frühstück, als des Obersten Hausmeister mit Hintansetzung jeder Förmlichkeit ins Zimmer gestürzt kam.
»Haben Sie’s schon gehört, Herr«, stieß er keuchend heraus, »was bei den Cunninghams geschehen ist?«
»Wieder ein Einbruch?«, rief der Oberst und hielt seine Kaffeetasse, die er eben zum Munde führen wollte, unbeweglich in der Luft.
»Nein, ein Mord.«
»Wahrhaftig? – Wer ist denn tot – der Friedensrichter oder sein Sohn?«
»Keiner von beiden, sondern Wilhelm, der Kutscher. Mitten durchs Herz geschossen – konnte keinen Laut mehr von sich geben.«
»Wer hat ihn denn erschossen?«
»Der Einbrecher. Er floh wie ein Pfeil davon und ist entkommen. Wilhelm kam gerade dazu, als der Kerl das Vorratskammerfenster eindrückte. Während er seines Herrn Eigentum rettete, fand er selbst den Tod.«
»Wann war das?«
»Letzte Nacht, Herr, gegen zwölf Uhr.«
»Wir werden gleich nachher hinübergehen, um uns näher danach zu erkundigen«, sagte der Oberst und frühstückte gelassen weiter. »Eine abscheuliche Geschichte«, fuhr er fort, als der Hausmeister sich entfernt hatte.
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