Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
deshalb nehme ich auch Ihre Hilfe nicht in Anspruch. Falls die Sache schiefgeht, trage ich natürlich alle Konsequenzen. Darauf habe ich mich eingestellt. Im Augenblick kann ich Ihnen nur versprechen, daß ich sofort mit Ihnen Kontakt aufnehmen
werde, wenn dadurch meine Verbindungen nicht mehr gefährdet werden.«
Gregson und Lestrade waren weit davon entfernt, mit dieser Zusicherung zufrieden zu sein.
Auch der Tadel, der die Polizei betraf, behagte ihnen nicht besonders. Gregson war bis zu den Wurzeln seines blonden Haares rot geworden, während die kleinen braunen Mausaugen des
anderen neugierig und ärgerlich zugleich funkelten. Doch kam keiner von ihnen dazu, etwas zu erwidern, denn es wurde an die Tür geklopft, und der Wortführer der Straßenjungen,
Wiggins, präsentierte sich in seiner unappetitlichen kleinen Persönlichkeit.
»Bitte, Sir«, sagte er, »die Droschke steht unten.«
»Bist ein braver Kerl!« sagte Holmes freundlich. »Warum stellt man diese Jungen bloß nicht bei Scotland Yard ein?« fuhr er fort und nahm ein Paar Handschellen aus der Schublade.
»Schauen Sie mal, wie gut das Federwerk funktioniert. Sie schnappen sofort ein.«
»Das alte Modell genügt uns vollkommen«, sagte Lestrade, »wenn wir bloß den Kerl hätten, dem wir sie anlegen können.«
»Sehr gut, sehr gut«, sagte Sherlock Holmes und lächelte. »Der Kutscher könnte mir
eigentlich helfen, mein Gepäck hinunterzubringen. Wiggins, hol ihn doch bitte herauf.«
Daß mein Freund eine Reise unternehmen wollte, überraschte mich, denn er hatte vorher
nichts davon gesagt. Allerdings stand eine kleine gepackte Reisetasche im Zimmer, und er begann, die Riemen festzuschnallen. Er war damit noch eifrig beschäftigt, als der Kutscher ins Zimmer kam.
»Helfen Sie mir noch eben bei der Schnalle hier, Kutscher«, sagte er. Er kniete über seinem Koffer und hatte nicht einmal den Kopf umgedreht.
In seiner brummigen, herausfordernden Weise kam der Mann näher und griff nach dem
Riemen, um zu helfen. In dem selben Augenblick hörten wir jedoch ein scharfes Klicken, ein leises Klirren von Metall, und Sherlock Holmes sprang wieder auf die Füße.
»Meine Herren«, rief er mit blitzenden Augen, »erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Mr. Jefferson Hope vorstelle, den Mörder Enoch Drebbers und Joseph Stangersons.«
Das Ganze hatte nur einen Augenblick gedauert - es geschah so schnell, daß ich keine Zeit hatte, zu erfassen, was überhaupt geschehen war. Ich erinnere mich noch genau an diesen Augenblick: an den triumphierenden Ausdruck Holmes', an den hellen Klang seiner Stimme und an des Kutschers benommenes, wildes Gesicht, als er die glitzernden Handschellen
anstarrte, die ihm wie an die Handgelenke gezaubert schienen. Ein oder zwei Sekunden lang mögen wir wie eine Gruppe von Statuen ausgesehen haben. Dann entwand sich der
Gefangene mit einem unartikulierten Wutschrei Holmes' Griff. Mit einem Sprung warf er sich gegen das Fenster, um hinauszuspringen. Holz und Glas splitterten. Aber bevor er wirklich springen konnte, hatten Holmes, Lestrade und Gregson ihn wie Jagdhunde angesprungen. Er wurde ins Zimmer gezerrt und ein furchtbarer Kampf begann. Er war wie rasend und
entwickelte solche Kräfte, daß er uns vier
immer wieder abschüttelte. Er schien über die unmenschliche Kraft eines Tobsüchtigen zu verfügen. Seine Hände und sein Gesicht waren bei dem Versuch, durch das offene Fenster zu springen, furchtbar zerschnitten. Aber der Blutverlust verminderte seine Widerstandskraft in keiner Weise. Erst als Lestrade ihn am Halstuch zu fassen kriegte und ihn halb erwürgte, wurde ihm klar, daß weiterer Widerstand sinnlos war. Und doch waren wir seiner so wenig sicher, daß wir ihm neben den Händen noch die Füße fesselten. Schließlich war auch das geschafft. Atemlos und erschöpft richteten wir uns wieder auf.
»Wir haben seine Droschke«, sagte Sherlock Holmes. »Die wird uns dazu dienen, ihn nach Scotland Yard zu bringen. Und damit, meine Herren«, fuhr er mit einem freundlichen Lächeln fort, »haben wir unser kleines Rätsel gelöst. Sie dürfen mich gerne fragen, was immer Sie wollen. Ich verspreche Ihnen, keine Antwort schuldig zu bleiben.
2. TEIL
Im Lande der Heiligen
1. KAPITEL
Die Salzwüste
Etwa in der Mitte des großen amerikanischen Kontinents liegt eine dürre, unfruchtbare
Wüste, die lange Jahre hindurch dem Fortschreiten der Zivilisation Grenzen setzte. Von der Sierra Nevada bis nach Nebraska, und vom
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