Sherlock Holmes und die Theatermorde
vergessen –«
»Ich glaube schon.« Ich verweilte für einige Augenblicke an die Säule gelehnt, und meine Augen begannen, sich mit Tränen zu füllen. Zu dieser Säule hatten Holmes und ich vor sieben Jahren die junge Mary Morsten, meine spätere Frau, begleitet, als wir in den Fall verwickelt waren, der sie zuerst zu uns geführt hatte. * Ihr verfrühter Tod lag jetzt beinahe drei Jahre zurück, und niemals in all dieser Zeit war ich dem Ausgangspunkt unseres gemeinsamen großen Abenteuers so nahe gekommen. Ich rang nach Haltung und gab zu verstehen, daß ich bereit war.
Die Vordertüren des Lyzeums waren offen, und wir betraten das elegante Foyer.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die tiefe Stimme, die diese Worte sprach, erschreckte uns um so mehr, als unerfindlich war, woher sie kam. Das Rätsel löste sich schnell, als die verdeckten Fenster des Kartenschalters aufgestoßen wurden und wir uns einem dunklen, bärtigen Mann mit einer Adlernase und ausdruckslosen schwarzen Augen gegenübersahen. Er saß hinter Gittern wie ein Kassenbeamter, und ich empfand bei seinem Anblick, daß er dort von mir aus gerne bleiben könnte.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« wiederholte er in dem gleichen, hölzernen Ton.
»Wir suchen nach Sir Arthur Sullivan«, klärte Holmes ihn auf. »Ist er heute morgen hier? Man hat uns gesagt, wir würden ihn hier finden.«
»Wer will ihn sprechen?«
»Mr. Sherlock Holmes.«
Die bärtige Erscheinung blieb während dieser Worte stocksteif, erhob sich dann mit beängstigender Entschlußfreudigkeit und schlug schmetternd die Läden zu. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür zum Schalter, und zum Vorschein kam ein nicht ganz einssiebzig großer Mann in dunklem, tadellosem Anzug, der seinen kraftvollen, um nicht zu sagen, athletischen Körperbau keineswegs verbarg.
»Sherlock Holmes?« Die unergründlichen schwarzen Augen glitten zwischen uns hin und her. Holmes neigte ein wenig den Kopf.
»Sie wünschen Sir Arthur zu sehen? Er spricht gerade mit Sir Henry. Kann ich Ihnen mit etwas helfen?« Das Angebot entbehrte jeglicher Wärme.
»Sie können mir zu Sir Arthur verhelfen«, erwiderte Holmes, von der drohenden Visage des Mannes gänzlich unbeeindruckt. »Und Sie können John Henry Brodribb meine Grüße ausrichten.«
Die Augenlider des Mannes zuckten, als sei eine Reitpeitsche vor seinem Gesicht geschwungen worden. Es war soweit seine einzige menschliche Reaktion. Er drehte sich ohne weiteren Kommentar auf der Ferse um und betrat das Theater.
»Was für ein eigentümlicher Charakter. Ich muß sagen, Holmes, es scheint in diesem Beruf keine normalen Individuen zu geben.«
»Es gab eine Zeit, da hätten anständige Hotels sie nicht aufgenommen«, stimmte er zu, »und es pflegte ein Gemeinplatz zu sein, darauf zu verweisen, daß es ein Schauspieler war, der Präsident Lincoln erschoß.« Er schürzte die Lippen und versuchte, sich an etwas zu erinnern. »Sagte dieser Mann ›Sir Henry‹? Doch sicherlich nicht.«
Ich wollte ihm gerade antworten und meine eigenen Spekulationen vorbringen, als das Klappern von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster vorm Theater unsere Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ein geschlossener vierrädriger Einspänner war vorgefahren, und ihm entstieg die hübscheste Frau, die ich je gesehen hatte. Ihre Figur war adrett und mädchenhaft, obwohl ich, als sie näher kam, sehen konnte, daß sie auf die Fünfzig zuging. Dennoch waren ihre Haare unter dem verwegen aufgestülpten Hut blond und ihre Augen von leuchtendem Blau. Ihre Nase über einem ausdrucksvollen und humorvollen Mund war winzig, aber edel geformt. Lachte sie – was oft geschah –, so konnte ich einen Blick auf ihre vollkommen weißen Zähne werfen, die wie Perlenschnüre glänzten.
Es waren aber nicht die einzelnen Züge, die Bewunderung erregten, sondern eher das ›tout ensemble‹ . Hier war ein liebenswürdiger Intellekt am Werke, der all das miteinander verband. Was vorherrschte, war der Eindruck von Vernunft und menschlicher Wärme, in deutlichem Kontrast zu der Person, die wir zuvor in diesem Foyer getroffen hatten. Was für ein Ort der Extreme!
Die Frau warf, während sie dem Brougham entstieg, dem Kutscher (man denke) eine Kußhand zu und tanzte ins Foyer.
»Guten Morgen!« rief sie fröhlich, als sie uns bemerkte. »Es werden vor zwölf Uhr keine Tickets verkauft, wissen Sie – aber Sie haben ganz recht, sich früh anzustellen; sie sind die ganze Woche über wie warme Semmeln
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