Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
vor uns her die Treppe hinaufgeeilt. Das Haus hatte vier Stockwerke. Als ich sie, nun schon ziemlich außer Atem, erreichte, versuchte sie gerade aus einem Fenster, das sie hochgeschoben hatte, auf die Straße zu springen. Ich riss sie zurück.
»Nein«, schrie sie. »Lass' mich! Ick tret dir in die Eier!«
Es gelang mir, mit der Gelassenheit zu reagieren, die von einem Gentleman füglich erwartet werden darf.
»Selbst das wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie es tun, Eliza! Aber warum wollen Sie denn Ihr Leben so einfach wegwerfen? Kommen Sie, mein Kind!«
Erst lachte sie hysterisch auf, dann ging das Lachen in ein Schluchzen über und sie sank in meinen Arm. Holmes verfolgte mit ironischem Grinsen die Szene. Ich bedeutete ihm mit einer energischen Kopfbewegung, sich zum Teufel zu scheren, und begleitete Eliza in das Badezimmer. Dort nahm ich rasch eine kurze Untersuchung ihrer Nackenmuskulatur vor und fragte sie nach einigen Symptomen, die gewöhnlich mit einer Hirnhautentzündung einhergehen. Es bestand kein Anlass zur Sorge.
Wenig später saßen wir wieder um den Tisch, auf dem jetzt der Umschlag mit den einhundert Pfund neben den Sklerallinsen lag. Eliza weinte nicht mehr, sondern blickte betreten zu Boden. Karpathy hatte allen wortreich aus einer Flasche mit der Aufschrift Cseresznye Pálinka eingeschenkt. Dunkelrote Kirschen auf dem Etikett zeigten, woraus das Getränk mit dem unaussprechlichen Namen gebrannt war. Während er sein Glas in einem Zug leerte und sich gleich noch ein zweites Mal bediente, nippte Holmes lediglich. Ich selber genehmigte mir etwas mehr. Es war köstlich!
Kaum hatten wir die Gläser wieder abgestellt, da läutete es. Gleich darauf führte das Hausmädchen Maggy den Professor herein.
»Eliza!«, rief Higgins.
Eliza sprang auf. »Henry, ich ...!«
»Sag' jetzt nichts, Eliza! Ich verzeihe dir alles! Komm zurück!« Er zog sein Geschenk aus der Tasche. Das Papier war arg ramponiert, weil er es schon seit Wochen mit sich herumschleppte. Eliza nahm es jedoch nicht.
»Was, Henry? Du willst mir verzeihen? Was denn? Dass du mir kein einziges Wort der Anerkennung gegönnt hast? Wer hat denn auf dem Ball die feine Dame gespielt und keiner hat's gemerkt? Du vielleicht?«
Holmes unterbrach die beiden. »Vielleicht können wir das auf später verschieben! Hier haben Sie zunächst einmal Ihre einhundert Pfund zurück, Professor!«
»Eliza wäre mir lieber!« Trotzdem steckte er den Umschlag unverzüglich ein. Was man hat, hat man!
»Das ist nicht mehr meine Angelegenheit!«, erwiderte Holmes.
»Aber gestatten Sie trotzdem einige Fragen«, insistierte Higgins. »Zum Beispiel ...«
»Ich werde gleich alles erklären«, unterbrach ihn Holmes. »Wenn ich etwas nicht ertragen kann, ist es, das man mich für einen Dummkopf hält. Doch genau das haben Sie getan, Karpathy.«
Der war erstaunt. »Womit denn?«
»Weil Sie glaubten, ich wüsste nicht, dass Erzsébet die ungarische Form von Elizabeth ist! Sie hätten etwas mehr Phantasie in Bezug auf den Namen Ihrer angeblichen Cousine walten lassen sollen. Und damit wäre eigentlich der ganze Fall schon geklärt.«
»Aber nicht für mich!«, warf ich ein. »Bitte erklären Sie's noch mal!«
»Also von vorne! Eliza lernte – korrigieren Sie mich bitte, wenn ich irren sollte – Sie, Karpathy, auf dem Diplomatenball kennen. Weil Sie, Professor, ihre Leistung nicht angemessen würdigten, kam es gleich nach dem Ball zum Zerwürfnis mit Eliza, sie verließ Ihr Haus und suchte Karpathy auf, der ihr sicherlich das Blaue vom Himmel versprochen hatte.«
»Ich hatte ihr gesagt, wo ich wohne, und gleich am nächsten Tag stand sie schon vor meiner Tür, in Tränen aufgelöst«, erklärte Karpathy. »Zu dem Professor wollte sie nicht zurück, zu ihrem Vater ebenfalls nicht, und Freddy ... das war außerhalb alles Denkbaren. So gewährte ich ihr Asyl.«
»Wie edelmütig von Ihnen!« Holmes klang in diesem Moment sehr sarkastisch. »Nun, wahrscheinlich entstand bereits an jenem Abend der Plan, Professor Higgins zu erpressen. Wer hatte denn die Idee dazu?«
»Das war sie!«, behauptete Karpathy.
»Das ist doch überhaupt nicht wahr!«, widersprach Eliza heftig. »Das war seine Idee!«
»Nun, Sie stehen hier vor keinem Gericht, daher dürfte die Frage der Urheberschaft von nebensächlicher Bedeutung sein. Tatsache ist, dass Eliza, wie der Professor bestätigte, davon träumte, Sprachlehrerin zu werden. Ihr fehlte nur das nötige Kapital. Nicht wahr,
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