Sherry Thomas
er
Sie nicht bemühen sollen.«
»Das macht gar nichts«,
erwiderte Miss Carlisle leise.
Miss Carlisle konnte man eher
attraktiv denn schön nennen, aber dafür besaß sie leuchtende Augen und eine bemerkenswerte
Schlagfertigkeit. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren erlebte sie nun schon ihre
vierte Saison, und man munkelte, dass ihr wohl nicht an einer Heirat gelegen
war. Sie hatte bisher alle Anträge abgelehnt und würde mit fünfundzwanzig die
Verwaltung ihres beträchtlichen Erbes selbst übernehmen.
Ob Miss Carlisle noch immer ledig
gewesen wäre, wenn Freddie sich nicht Hals über Kopf in Gigis Kunstsammlung
verliebt hätte? Seit er die gesehen hatte, glaubte er fest, dass er und Gigi
seelenverwandt waren, sie beide gleich fühlten, wie die Zeit verrann, die
letzten Frühlingstage so schmerzlich vergingen und wie unerklärlich die
Freuden und Leiden des Lebens waren. Dabei hatte sie die Gemälde
ironischerweise allein in der Hoffnung erworben, Camden damit eine Freude zu
machen und ihn vielleicht umzustimmen.
Warum hatte sie Freddie nie gesagt,
dass sie die Zukunft der Vergangenheit vorzog und ihr der Sinn des Lebens
selten Kopfzerbrechen bereitete? Plötzlich kam sie sich ganz schlecht vor.
Hätte sie das nämlich getan, wäre Freddie jetzt wahrscheinlich mit Miss
Carlisle verlobt, einer Frau mit reinem Gewissen, statt mit Gigi, die hinter
seinem Rücken einem anderen Mann Intimitäten gestattete.
Durfte sie wirklich das Opfer
spielen und behaupten, dass hier der Zweck die Mittel heiligte, obwohl sie die
kurze Vereinigung mit Camden nicht nur verabscheuungswürdig empfunden hatte?
Tatsächlich hatte sie seitdem – bis jetzt bei den Carlisles – noch keinen
einzigen Gedanken mehr an den armen Freddie verschwendet.
Sie entdeckte ihn, wie er in dem
winzigen Garten auf und ab ging. Sein Versteck hinter den Rosen hatte er verlassen.
»Philippa!« Er eilte herbei und
hängte ihr seinen Gehrock um die Schultern. Der war angenehm warm, roch aber
streng nach Terpentin.
»Hast du wieder in deiner besten
Garderobe gemalt?«
»Nein, aber ich habe mich beim
Dinner mit Sauce bekleckert«, gab er schuldbewusst zu. »Der Butler hat
sich darum gekümmert. Hat er sehr gut gemacht.«
Liebevoll strich sie ihm über die
Wange. »Wir sollten dir wirklich besser Ölzeug anziehen.«
»Ich kann es kaum glauben! «, rief
er. »Genau das hat meine Mutter immer zu mir gesagt.«
Unsicher schaute sie ihn an. Hatte
sie ihn von oben herab behandelt? Oder wie ein kleines Kind? Das war nicht
ihre Absicht gewesen.
»Weißt du, was Angelica vorhin
meinte?«, fragte er fröhlich. »Ein Mann in meinem Alter sollte wirklich
besser aufpassen. Und außerdem würde ich Zeit vertrödeln, weil ich Angst habe, mein nächstes Bild
könnte miserabel werden. Ich solle mich endlich von meinem Allerwertesten erheben
und damit anfangen.«
Sie gingen um die Rosenranken herum
und nahmen auf der an diskreter Stelle aufgestellten Bank Platz, wo man
eigentlich um Miss Carlisles Hand hätte anhalten sollen. Freddie lachte. »Du
sagst ja, sie hätte eine hohe Meinung von mir, aber danach klang es heute gar
nicht.«
Das einzige Gemälde, das Freddie im
letzten Jahr vollendet hatte, hing in Gigis Schlafzimmer. Zwar erkundigte sie
sich immer, wie es denn mit seiner neuen Arbeit voranging, machte sich aber
nicht eigentlich viele Gedanken über seine Kunst. Sie hielt sie hauptsächlich
für den Zeitvertreib eines reichen Gentlemans, ein Bollwerk gegen die
Langeweile.
Das sah Miss Carlisle offenbar
anders. Überhaupt sah sie Freddie anders. Gigi kümmerte es nicht, dass er oft
zerstreut war und unter künstlerischen Selbstzweifeln litt. Solange er sie nur
weiter anbetete, hätte er auch den ganzen Tag auf der Chaiselongue liegen und
die Bonbonniere leeren dürfen, wenn es nach ihr ging. In Miss Carlisles Augen
hingegen war er ein Rohdiamant, ein Mann, in dem Bemerkenswertes steckte, so er
sich denn nur ein wenig anstrengen würde.
War Gigis Zuneigung zu Freddie im
Vergleich damit edler – oder aber selbstsüchtig? Oder ging es vielleicht eher
darum, ob Freddie mehr aus seinen Talenten machen wollte?
Freddie lehnte den Kopf gegen ihre
Schulter, und Gigi strich ihm durchs feine Haar. Sie schwiegen beide, während
sie die weiche Nachtluft einatmeten, die den betörend süßen Duft des
Geißblatts mit sich trug. Bisher hatte Gigi sich immer entspannt und geborgen
gefühlt, wenn sie so dasaßen und sie ihm den Kopf streichelte. Doch heute
wollte sich diese
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