Sherry Thomas
20
Kopenhagen,
im Juli 1888
Camden sonnte sich darin, dass er der
Lieblingsonkel seines Neffen war. Er tauchte unregelmäßig im Leben des Kindes
auf, und jedes Mal wurde seine Ankunft zu einem unvergesslichen Erlebnis, zu
dem Schokolade, neues Spielzeug und wilde Huckepackritte gehörten.
Die Überfahrt war sehr unruhig
gewesen, und sein Schiff hatte sechsunddreißig Stunden Verspätung gehabt. Bei
Claudia daheim traf er zunächst nur die Jungen und das Personal an. Seine
Schwester und sein Schwager hatten das Haus verlassen, um den Abend woanders zu
verbringen. Camden ließ sich das Dinner nach oben ins Kinderzimmer bringen und
aß neben einem plappernden zweieinhalb Jahre alten Teodor und mit dem fünf
Monate alten Hans.
Teodor war restlos begeistert von
seinem neuen Kaleidoskop, machte es allerdings schon nach einer Viertelstunde
kaputt. Der Junge betrachtete den Scherbenhaufen einen Augenblick lang, dann
brach er in ein grässliches Geheul aus ob des Unglücks. Camden wusste, wie er
mit weinenden Kleinkindern umzugehen hatte, schließlich war er selbst sieben Jahre
älter als sein Bruder Christopher. Also lenkte er den Kleinen geschickt mit
ein paar Magneten ab. Sobald der begriff, dass die schwarzen Metallblöcke
zaubern konnten, setzte er sich schnell wieder hin und hielt sie gegen Löffel
und Messer. Hans hingegen zeigte sich ganz als echter
Gentleman, blieb durchgehend ruhig und kaute zufrieden auf seiner Rassel, wobei
er höchstens ab und zu ein fröhliches Glucksen hören ließ.
Als Erstes wurde Teodor müde, der
schon seit einer Weile keinen Mittagsschlaf mehr hielt. Das Kindermädchen
brachte ihn zu Bett. Nachdem Hans sein Fläschchen getrunken hatte, schlief er,
die Wange an Camdens Schulter gelehnt, mit offenem Mund ein. Camdens Hemd wurde
ein wenig feucht dabei. Liebevoll küsste er das winzige Ohr des Kindes. Dabei
empfand er einen vagen Verlust.
Gleich nachdem er sein Diplom an der
Polytechnischen Hochschule in Paris erworben hatte, war er in die Vereinigten
Staaten gegangen. Dort war er ein so reicher Mann geworden, wie er es vorher
nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Doch sein Geld, an sich zwar äußerst
angenehm und willkommen, wärmte ihm weder das Bett, noch füllte es das Haus mit
der Kinderschar, die er sich wünschte.
Claudia kam herein, küsste Camden
auf die Wange, Hans aufs Haar und ging hinüber zum Bettchen von Teodor, um
auch ihn zu küssen.
Eine Minute später stand sie wieder
vor ihrem Bruder. »Ist er nicht groß geworden?«, fragte sie und nahm Hans'
kleine Hand.
»Kaum hat man ein Baby einmal ein
paar Monate nicht gesehen, ist es gleich doppelt so groß«, sagte Camden.
»Hast du dich gut amüsiert heute Abend?«
»Schon. Pedar und ich haben mit
deiner Gattin soupiert.«
Camden hatte »seine Gattin« zum
letzen Mal im Mai des Jahres 1883 zu Gesicht bekommen, was nun fünf Jahre her
war. Er rollte mit den Augen. »Aber natürlich, Claudia, ganz bestimmt.«
»Das ist mein Ernst«, erklärte
sie. »Sie weilt hier in der Stadt. Vor drei Tagen hat sie mir einen Besuch
abgestattet. Und am Tag darauf war ich dann bei ihr zu Gast und lud sie zum
Essen ein. Mit dem heutigen Abend hat sie sich dafür revanchiert. Wir speisten
bei ihr im Hotel.«
Man musste es Camden hoch anrechnen,
dass er den kleinen Hans nicht auf den Kopf fallen ließ. »Was will sie in
Kopenhagen?«
»Sie schaut sich während ihrer
Rundreise durch Skandinavien die Sehenswürdigkeiten an. In Schweden und
Norwegen war sie bereits.«
»Allein?«
Kaum war ihm die verräterische
Bemerkung entschlüpft, wünschte er auch schon, er hätte sich lieber die Zunge
vorher abgebissen.
»Nein, zusammen mit ihrem privaten
Harem.« Claudia musterte ihren Bruder misstrauisch, er musste sich Mühe
geben, unter ihrem wachsamen Blick nicht zusammenzuzucken. »Woher soll ich das
wissen, Camden? Sie hat mir jedenfalls keinen Geliebten vorgestellt, und ich
habe sie auch nicht beobachten lassen. Find's doch heraus, wenn es dich so
brennend interessiert.«
»Nicht doch, Claudia, ich meinte, ob
sie in Begleitung ihrer Mutter hier ist.« Er übergab Hans dem Kindermädchen.
»Außerdem geht mich der Lebenswandel meiner Gattin ansonsten nichts an. Sie
kann tun und lassen, was ihr beliebt.«
»Falls es dir entgangen sein sollte,
darf ich dich gern darüber unterrichten, dass Lady Tremaine durchaus ihren
familiären Verpflichtungen nachkommt. Wenn Mama und Papa sich in London
aufhalten, besucht sie sie einmal in der Woche.
Weitere Kostenlose Bücher