Shevchenko, A.K.
sie bei
einem Raketentreffer blockierten. Auch der Zeitpunkt des Gesprächs war
entscheidend. Die hungrigen Soldaten, die sich in der Nähe befanden, hörten gar
nicht hin - sie waren alle vollauf damit beschäftigt, die letzten Reste der
öligen Buchweizengrütze aus ihrem Aluminiumkochgeschirr zu kratzen.
Taras betritt seine Wohnung, wäscht sich die Hände, wie
jeden Abend. Oder hat er sie schon gewaschen? Er war so in Erinnerungen
versunken, dass er wie mit Autopilot nach Hause lief.
Ein
billiger Teebeutel, kochendes Wasser, zwei Stück Würfelzucker rein. Taras
arrangiert die Käsescheiben in einer dünnen, gleichmäßigen Schicht auf seinem
Brot und blickt aus dem Fenster. Und was ist heute los in der Seifenoper drüben
im Nachbarhaus? Sechster Stock, das Fenster gegenüber. Sie hat einen Gast.
Kognakflasche auf dem Tisch, eine Pralinenschachtel, noch ungeöffnet. Es ist
das erste Mal seit einem Jahr, dass sie im Schlafzimmer nebenan die Vorhänge
zuzieht. Taras wünscht ihr Glück, sie musste so lange warten.
Vierter Stock, drittes Fenster links. Die Pendlerin ist
wieder da. Ihre Töchter hopsen um die Reisetaschen herum und probieren ihre
neuen T-Shirts an. Ihre Mutter sitzt zusammengesunken im Sessel in der Ecke und
schaut zu. Er kann ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber bestimmt lächelt
sie, da ist er ganz sicher. Ihr Ehemann, der sonst immer auf dem Sofa
herumliegt, ist nirgends zu sehen. Vielleicht hat sie ihn rausgeworfen.
Unwahrscheinlich, weil er ja zu Hause bei den Mädchen bleiben muss, wenn sie
sich auf die nächste Expedition in die Türkei begibt ... Wahrscheinlich hatte
der Mann keine Lust auf dieses kurzlebige Teenie-Glück und ist mit seinen
Kumpels in die Kneipe gezogen. Natürlich mit dem Geld, das seine Frau verdient
hat.
Fünfter Stock, zweites Fenster rechts. Verlässt dieser
Rentner eigentlich nie sein Zimmer? Dauernd hockt er zu Hause, tief in Gedanken
versunken über seine Papiere gebeugt. Wer wohl die Stromrechnung bezahlt?
Taras ist so sehr daran gewöhnt, abends das Nachbarhaus zu
inspizieren, dass er es direkt vermissen wird, wenn er nach seiner Beförderung
in eine größere, schönere Wohnung umzieht, näher dem Zentrum. Für ihn sind das
nicht nur die Fenster in ein anderes Leben. Diese Menschen sind zu seiner
Ersatzfamilie geworden, weil er keine andere hat. Er schaltet das Radio an.
Eine freundliche Stimme begrüßt ihn und gibt einen Überblick über die
Abendnachrichten.
Russland, das ja letzte Woche gegen Slowenien gewonnen
hat, hofft jetzt, dass der siegreiche Auftakt für die WM-Qualifikation eine
Fortsetzung findet.
Heute fand die alljährliche Zeremonie zur Verleihung des
Theaterpreises der Goldenen Maske statt.
Die Vereinigten Staaten haben zehn russische Diplomaten zu
unerwünschten Personen erklärt und sie angewiesen, das Land zu verlassen,
nachdem einem FBI-Agenten Spionage für Moskau vorgeworfen wurde.
Schon bald wird Taras sich um solche Bulletins gar nicht
mehr kümmern. Bald wird er sie selbst kreieren. Das zum Beispiel geht schon auf
sein Konto: »Der ukrainische Präsident befindet sich auf einer Tour durch
verschiedene Hauptstädte Europas.« Sie können nicht hinzufügen »und wird mit
leeren Händen zurückkehren«, denn das können sie ja nicht wissen - aber darum
hat Taras sich gekümmert. Er hat seinen Bericht, an dem er das ganze Wochenende
gearbeitet hat, heute abgegeben. Sein Treffen mit Karpow, bei dem sie die
Resultate der Operation besprechen werden, findet morgen statt. Falls Karpow
ihm von sich aus keine Beförderung anbietet, soll er sie dann selbst
vorschlagen? Idealerweise die Versetzung zu einer Abteilung für Sabotage und
subversive Tätigkeit. Karpow kennt doch sicher jemanden dort. Der hat doch
überall alte Kameraden. Er wird Taras empfehlen: Schließlich hat er eine recht
gute Erfolgsbilanz vorzuweisen. Na gut, erstens werden sie einwenden, dass er
nicht den Vorbereitungskurs an der Geheimdienstschule N 101 in
Balaschicha absolviert hat, und zweitens, dass er jetzt schon zu alt sei - aber
dann wird er Oberst Surikow zitieren: »Ein scharfer Verstand nützt mehr als
scharfe Augen.«
Als Taras sich auf seinem schmalen Sofa ausstreckt,
drücken ihm die Sprungfedern ins Rückgrat. Wie hatte dieser neue Schlager
gleich noch mal gelautet, der heute vor den Nachrichten im Radio gekommen war?
»Tanz mit mir, Schicksal - aus Freude, nicht aus Sorgen.
Tanz mit mir, Schicksal, und ändere mein Morgen!« Morgen.
Sein
Weitere Kostenlose Bücher