Shevchenko, A.K.
diplomatischer
Skandal, in den drei Länder involviert sind. Einfach so. Zweifellos wird sein
Name bekannt werden, und man wird ihm weitere Fragen stellen.
»Das ist einfach nicht möglich.« Er spricht teilnahmslos,
als müsste er jeden Laut durch eine Bleischicht pressen. »Sie kennen die
Geschichte, Genosse Oberst. In der Akte haben nur drei Dokumente gefehlt - ich
habe die Berichte gründlich überprüft. Dem Inhaltsverzeichnis nach gab es
folgende Dokumente: Report über das Verhör von Pawlo
Polubotok, den Schatzmeister der Kosaken; Bericht über den Nachkommen, der
Anspruch auf das Testament erhebt und Kopie des
Wortlauts des Testaments. Nun, der Nachkomme, der versucht
hat, das Erbe einzufordern, weilt nicht mehr unter uns, und auch die einzige
Person, die vielleicht tiefer geschürft hätte - Andr... -, diese zweite Person
wurde daran gehindert, das Original des Testaments zu finden. Und ohne die
Präsentation des Testaments kann kein Anspruch auf das Erbe erhoben werden.«
»Sind Sie sicher, dass Sie in Cambridge nicht irgendwelche
Dokumente gefunden haben, Leutnant Petrenko?« Karpows Augen werden zu schmalen
Schlitzen. »Wer weiß, was Sie in Großbritannien getan und welches Spiel Sie
getrieben haben - meine Quellen bestätigen mir nämlich außerdem, dass das
Testament aus Großbritannien in die Ukraine gelangt ist. Überbracht von einer
britischen Rechtsanwältin.« Der Oberst hämmert ihm jedes Wort ein.
»Ich begreife nicht, wie ...« Taras bricht ab. Ihm wird
plötzlich klar, dass er einen klassischen Fehler gemacht hat, der nicht einmal
einem Anfänger an der Akademie hätte passieren dürfen. Er erinnert sich an den
Text des Berichts von 1962: Die
einzige direkte Nachkommin, die in der Ukraine lebt und zurzeit Anspruch
auf das Erbe erhebt, ist Oxana Polubotok. Er hat
sich nie gefragt, warum diese Worte unterstrichen sind. Sein Blick war durch
einen persönlichen Rachefeldzug getrübt. Er hat keinerlei Ansprüche von im Ausland lebenden Nachkommen überprüft; er ist einem einzigen
Anhaltspunkt gefolgt und hat nicht über den Tellerrand hinausgeschaut.
Nachlässig und unverzeihlich. Taras versucht, einen harten Klumpen
hinunterzuschlucken, der ihm in der Kehle sitzt.
»Sie sollten jetzt einen neuen Bericht schreiben. Es gibt
viel zu erklären.« Karpow sieht Taras nicht mehr an.
Taras kehrt nicht an seinen Schreibtisch zurück. Auch hat
er nicht vor, morgen zurückzukommen, um den Bericht zu schreiben. Seine
Schritte hallen in der riesigen Eingangshalle, und von oben beobachtet ihn ein
mächtiger Geist.
Nachdem er das Gebäude verlassen hat, bleibt er einen
Moment stehen und blinzelt in die helle Frühlingssonne. Moskau dröhnt und summt
um ihn herum. Er hatte vergessen, wie überwältigend groß dieser Platz ist. Oder
vielleicht hat er es einfach noch nie bemerkt? An den roten Ampeln warten
Bentleys und mehrere Mercedes 500 neben
zerbeulten Ladas, im Warten alle gleich. Straßenbettler wuseln erstaunlich
behende um sie herum. Amerikanische Touristen drücken sich gegen die Fenster
ihres Rundtourbusses, Kameras klicken und fotografieren das »Zentrum des Reichs
des Bösen«, wie sie das Gebäude, in dem er arbeitet, gerne nennen. Korrektur:
das Gebäude, in dem er gearbeitet hat. Taras entscheidet sich gegen die Metro
und den knallvollen Minibus Route 211 und tritt
zu Fuß den langen Heimweg an. Als er sein Hochhaus erreicht, ist es schon
dunkel. Die Fußknöchel schmerzen ihn nach dieser ungewohnten Anstrengung. Und
wie Taras merkt, geht das noch weiter. Der Lift funktioniert mal wieder nicht.
Auf dem Weg in den siebten Stock wird er noch viel Zeit zum Nachdenken haben.
Als er den sechsten Stock erreicht, hört er ein Winseln.
Obwohl der Treppenabsatz halb im Dunkeln liegt, sieht Taras, dass da kein Hund
winselt. Auf dem schmutzigen Türvorleger der Wohnung Nr. 62 kauert in
Unterhemd und Unterhose ein kleiner, magerer Junge, wimmernd, mit aufgeplatzter
Unterlippe, und verteilt mit dem Handrücken Blut und Rotz im Gesicht. »Was machst
du denn hier, Wasja?«, fragt Taras, ohne stehen zu bleiben. Er bereut die Frage
sofort. Wie albern! Man sieht ja, was der Junge hier macht. Drinnen, hinter der
schäbigen Tür, hört man einen heftigen, betrunkenen Streit. Der Junge ist vor
dem prügelnden Vater geflohen, genau wie Taras früher. Nur hatte er damals
keinen Türvorleger, auf dem er sitzen konnte, und kein Dach über dem Kopf; er
musste in den Wald laufen oder durch einen feuchten Gemüsegarten
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