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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Blickkontakt. Als sie sich schließlich
auf Barhockern gegenübersitzen, bereut Kate schon fast, ihn auf einen Kaffee
eingeladen zu haben. Sie stützt die Ellbogen auf die frisch gewischte
Plastiktheke und wirft ihm einen ungeduldigen Blick zu.
    Endlich feuert Andrij eine unerwartete Frage ab: »Wie
fanden Sie die Rede des Ministers?«
    Na toll. Er hat sie während der Konferenz beobachtet, ihre
Miene bemerkt - »totale Abwesenheit von Anwesenheit«, wie ihr Englischlehrer
zu sagen pflegte. In Kate steigt Enttäuschung empor und verwandelt sich langsam
in Ärger.
    »Nach dem, was ich gehört habe, wirkte er ziemlich ...
ziemlich glaubwürdig. Und er hat einen Scherz über die Schätze seines Landes
gemacht - sonst sind Banker ja oft fürchterlich ernst. Warum fragen Sie?«
    »Ich möchte, dass Sie sich das mal anschauen. Wie Sie
sehen, wurden die Dokumente nicht auf Englisch verfasst, also habe ich meine
eigene Übersetzung der Originale beigefügt. Ich habe lange im Wörterbuch
geblättert und versucht, die exakte Bedeutung jedes Worts zu finden.«
    An diesem Punkt verwandelt sich Andrij vom traurigen Clown
in einen souveränen Magier, der aus dem Nichts einen durchsichtigen
Plastikordner hervorzaubert.
    Kate betrachtet die ordentliche Handschrift mit all den
quergestrichenen t und den sorgfältig mit Punkten versehenen i. Die Handschrift
eines Lehrers - eines Menschen, der andere gern begeistert. Begeisterung wäre
allerdings das Letzte, wonach Kate momentan zumute ist. Sie kommt zu spät zum
Office Meeting und fühlt sich müde und erschöpft, und der stählerne Reif ist
wieder da - er umschließt zwar noch nicht den ganzen Kopf, drückt aber schon
heftig gegen ihre Schläfen. Behutsam schiebt sie den Ordner über die Bartheke
wieder Andrij zu.
    »Könnten wir uns vielleicht ein anderes Mal treffen? Ich
würde das sehr gerne lesen, muss jetzt aber wirklich weg. Ich bin spät dran;
wenn Sie mir also Ihre Telefonnummer dalassen ...« Sie lässt sich vom Barhocker
gleiten.
    »Nein, bitte, sehen Sie sich das an!« Er packt sie wieder
am Ärmel.
    Ist dieses Am-Ärmel-Packen in seinem Land Sitte, oder
besitzt er nur eine impulsive Art?, fragt sich Kate. Zögernd öffnet sie den
Ordner, um Zeit zu gewinnen, auf einen Fluchtplan zu sinnen. Doch da hat sie
sich schon festgelesen, ist gefesselt und erkennt, dass der dünne Plastikordner,
der hier vor ihr liegt, mehr birgt als die Seiten, die Andrij in seiner
sauberen Lehrerschrift kopiert hat. Die Geschichte ist faszinierend. Und
wichtig. Spektakulär sogar - wenn sie denn wahr ist.
    »Da ist ein Schreibfehler«, bemerkt sie geistesabwesend.
Als Anwältin hat sie sich angewöhnt, jedes einzelne Wort zu überprüfen. »Hier
steht Hetman - müsste das nicht ein i sein, hitman, ein Auftragskiller?«
    Andrijs Gelächter ist derart ansteckend, dass Kate
lächelnd den Kopf hebt, obwohl sie nicht versteht, warum diese Bemerkung über
einen Schreibfehler bei ihm so viel Heiterkeit auslöst. »Das ist völlig richtig
geschrieben«, erklärt Andrij. »Es handelt sich um einen historischen Begriff
und hat nichts mit Gangsterkreisen zu tun. Ein Hetman ist ganz sicher kein hitman, ganz im
Gegenteil. Es ist der Titel für den Oberbefehlshaber der Kosakenarmee im 16.
Jahrhundert und wurde später der Titel des Führers des Kosakenstaats.«
    »O ja, ich kenne mich mit den Kosaken aus«, unterbricht
ihn Kate. »Als ich klein war, nannte meine Großmutter mich oft eine Kosakin.
Ich war ein richtiger Wildfang, bin gern auf Zäune geklettert, hab Fußball
gespielt, und wenn ich mir mal wieder das Knie aufgeschürft hatte, sagte sie
immer: >Nicht weinen, jetzt musst du tapfer sein wie ein Kosak!< Übrigens
ist sie Ukrainerin, meine Oma. Ich bin mit ihren Kosakengeschichten groß
geworden ...« Andrij lauscht fasziniert, beugt sich vor, betrachtet aufmerksam
ihr Gesicht. Kate hält verlegen inne. Warum um alles in der Welt erzählt sie
ihm solche Kindheitsgeschichten? Einem Mann, den sie eben erst kennengelernt
hat, einem ausländischen Wissenschaftler - und, vor allem, einem potenziellen
Klienten ... »Nun, wenn Sie so viel über die Kosaken wissen, wird Sie dieser
Fall noch mehr interessieren«, bemerkte Andrij, als lese er ihre Gedanken. »Zu
Ihrem Honorar - was sagen Sie zu ...« Erneut zaubert er einen Gegenstand
hervor, diesmal einen Kugelschreiber, und kritzelt auf die Ecke einer
kaffeefleckigen Serviette eine Zahl. Seine Handschrift reißt einen wirklich
nicht vom Stuhl, die Summe dafür

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