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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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umso mehr. Wieder schiebt er Kate den Ordner
zu. Sie betrachtet die Zahl auf der Serviette: »So viel ist es also heute
wert?«
    »Nein, so viel könnten Sie verdienen, wenn Sie mir
helfen.« Andrij ist jetzt viel ruhiger; die Ponyfransen hängen ihm schon eine
ganze Weile in die Stirn. Ihr ist es lieber, wenn er sie wegstreicht; er hat
eine ziemlich hohe Stirn. Nun setzt er hinter die Zahl ein Ist-gleich-Zeichen
und fünf Buchstaben - JETZT - und noch
eine Zahl.
    Kate schießt das Blut in die Wangen. Sie schüttelt den
Kopf. »Das ist unmöglich, das ist ...« Ihr Blick fällt auf die Titelseite eines
Exemplars der Financial Times, die jemand
auf der Theke liegenlassen hat. »Das ist ja mehr als das Bruttoinlandsprodukt
der Niederlande!« Sie gibt sich standhaft: »Das kommt mir wie Humbug vor.«
Carols Lieblingsausdruck.
    Andrij sieht sie ernst an. Seine Englischkenntnisse können
mit Carols Vokabular nicht mithalten.
    »Das dürfte relativ leicht nachzuprüfen sein«, sagt er
kühl. »Und wenn es wahr ist, was dann?«
    »Na ja, dann vielleicht ...«, stammelt Kate, sucht nach
dem richtigen Wort, »dann könnte es eventuell verlockend sein. Übrigens, woher
stammen eigentlich diese Dokumente?«
    »Es würde lange dauern, das alles zu erklären. Wenn Sie
wirklich Interesse haben, können wir uns noch einmal treffen, dann erzähle ich
Ihnen alles.« Er zieht das »Iiiiihnen« leicht in die Länge. Seine Ponyfransen
bleiben in der Stirn; er ist jetzt längst nicht mehr so aufgeregt.
    »Kate ...« Er zögert. »Darf ich Sie bitten, zu schwören,
dass Sie niemandem etwas davon erzählen?«
    Sie denkt an den Bericht, den sie für ihre Chefin, diese
farblose alte Jungfer, über die heutige Konferenz anfertigen muss, und sieht
Andrij an. Entweder ist er sehr naiv oder ein brillanter Schauspieler. Aber
seine Miene ist so ernst, dass Kate an sich halten muss, um nicht zu kichern.
Sie legt die Hand aufs Herz und sagt: »Ich schwöre«, denkt jedoch: Jetzt
brauchen wir noch ein Baumhaus und eine Taschenlampe, dann wird das ein richtiges
Abenteuer ... Sie lässt sich seine Nummer geben, winkt ihm zu, geht zur U-Bahn.
Bewusst langsam - sie will vor den Augen ihres potenziellen Klienten nicht die
Treppe hinunterhüpfen.
    Als sie ins Büro stürzt, schon eine halbe Stunde zu spät
für ihr Meeting mit ihrer Chefin, fragt sich Kate, ob Carol heute wohl wieder
einen dieser Sätze parat hat, gegen die es kein Argument gibt, und wenn ja,
welchen. Als sie den neuen blau-weißen Kunstdruck in der Rezeption sieht,
bleibt sie stehen. Wenn Kate sich nervös und erschöpft fühlt, wird sie zu
einer Eule mit perfekter Nachtsicht: Sie erfasst die Welt bis ins kleinste
Detail. Das kleinste Detail in diesem Bild sind Myriaden von Punkten.
Pointiiiismus. Als Kate zwölf war, nahm ihre Mutter sie mit zu einer Ausstellung
von Werken der Impressionisten. Eins der Bilder war ein Chaos aus
Pinselstrichen. Kate, der das nicht gefiel, schlenderte weiter, doch als sie
die gegenüberliegende Wand der Galerie erreicht hatte, gebot ihr irgendeine
Macht (genauer gesagt ihre Mutter), noch einmal hinzuschauen. Kate konnte es
nicht fassen. Quer durch den Saal leuchtete ein frühlingshaft blühender
Kirschbaum zu ihr herüber.
    Kate tritt ein paar Schritte zurück, um herauszufinden,
aus welchem Winkel man das Bild betrachten muss. Jemand hat das schon vor ihr
getan: Den besten Blick auf die ruhige, neblige Landschaft hat man vom
Besuchersofa aus. Das ist Kunsttherapie: einfach, besänftigend, wirkungsvoll.
Abwarten und genießen. Vielleicht tut ihre Chefin das gerade - das Warten genießen
... Im Lift überlegt Kate, welche Farben sie wählen würde, um Carol zu malen;
wie sie den Pinsel führen würde. Als sie Miss Fletchers Büro erreicht, ist sie
zu dem Schluss gelangt, dass Geometrie passender wäre. Klar definierte,
präzise Linien mit Lineal und spitzem Bleistift.
    Zu Kates Überraschung kommt von Carol heute ausnahmsweise
keines dieser Argumente, die keinen Widerspruch zulassen. Sie hat zu viel zu
tun, um zu reden. Sie hebt den Kopf, fragt: »Wie war die Konferenz?«, und
segelt zurück in ihre Welt der Papiere, eine Welt, in der eine Anwältin, die
fünfunddreißig Minuten zu spät zu einem Meeting kommt, sozusagen das Schiff
verpasst. Kate betrachtet sie beinahe liebevoll. Na ja, mit etwas Retusche,
etwas Farbe - roter Lippenstift, brauner Lidschatten - könnte man sie
vielleicht doch malen.
    Etwas scheuert an Kates Ellbogen. Andrijs

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