Shevchenko, A.K.
Kate,
wie authentisch Andrij klingt. Es überrascht sie, dass sie ihm unbedingt helfen
möchte. Noch mehr überrascht sie, dass sie es nicht nur für das Wohl seines
Landes tun will. Auch nicht für das exorbitante, vergängliche Honorar.
Auf Andrijs Frage »Wie sollte der nächste Schritt
aussehen?« antwortet sie deshalb: »Ich glaube, wir brauchen günstige Winde.«
Er starrt sie verständnislos an. Sie lacht. »Ich dachte, Sie sprechen Spanisch?
Ich meine damit: Es sieht so aus, als müssten wir nach Buenos Aires fliegen.
Die Osterferien beginnen dieses Jahr erst Mitte April, wir könnten also noch
Glück mit den Tickets haben.«
Andrijs Lächeln löst sich vor ihren Augen auf. Erst werden
die Lippenwinkel ausradiert, dann erlischt das Funkeln in seinen Augen. »Ich
kann nicht, Kate«, sagt er. Er betrachtet das Chaos auf ihrem Schreibtisch, als
suche er die Gründe dort. So, als würde er sehr gerne fliegen, dürfe aber
nicht.
Wen er wohl um Erlaubnis bitten muss?, denkt sie. Als er
ihr gesteht: »Ich habe weder ein Visum noch Geld für diese Reise«, spürt Kate
das vertraute Prickeln, wenn es etwas zu arrangieren gilt. Sie liebt es, Flüge,
Pässe, Visa zu organisieren. Eigentlich sollte sie ein Reisebüro führen. »An
der Logik hapert's, aber in Logistik ist sie gut«, hat Carol mal zu einer der
Kolleginnen über sie gesagt. Sandra, die Abteilungssekretärin, hat es
mitgekriegt, Gott sei Dank. Jetzt weiß Kate, auf wessen Seite das Mädchen
steht. Sie wendet sich an Andrij. Ȇberlassen Sie das mir. Ich brauche nur die
Angaben in Ihrem Pass. Keine Sorge, das schlagen wir alles auf unsere
Prozesskosten drauf«, sagt sie rasch. Keine Zeit, darüber nachzudenken, wie
sie Philip erklären soll, warum sie diese relativ große Summe von ihrem
gemeinsamen Konto abheben wird; oder warum sie das langersehnte New-York-Wochenende
lieber in Buenos Aires verbringt, mit einem anderen Mann. Sie platzt beinahe
vor Energie, als hätte sie gerade ein Glas frischgepressten Orangensaft
getrunken. Sie ist bereit.
11
Buenos Aires, März 2001
Das monotone Dröhnen geht ihr unter die Haut. Sie öffnet
die Augen. Als das Flugzeug eine Kurve beschreibt, wird die Kabine von
orangefarbener Glut überflutet. Kate presst die Nase gegen den transparenten
Kreis und gibt acht, dass das Glas nicht beschlägt. Sie hat immer davon
geträumt, einmal einen Sonnenaufgang über den Wolken zu erleben.
Die Anzeige leuchtet auf, und die freundlich-metallische
Stimme informiert die Fluggäste, dass der Dreizehneinhalb-Stunden-Flug bald
beendet sein wird. Von den dreizehn Stunden haben sie sich gut zehn Stunden
unterhalten. Am Anfang stand beengte Zweisamkeit - die erzwungene Nähe einer
langen Reise. Sie weiß nicht, wann und wie sie dann zum Patience-Spiel
übergingen und abwechselnd ihre Lebenskarten auf den Tisch legten. Karobube.
Ein Bruder Leichtfuß. Langes blondes Haar, zum Pferdeschwanz gebunden. Antony,
Kates jüngerer Bruder, im zweiten Studienjahr. »Ich glaube, er hat sich für
Medizin entschieden, damit er sieben Jahre lang Student bleiben kann. Er ist
zu nachlässig und leichtsinnig, um Arzt zu werden - das macht mir Sorgen. Wir
stehen uns so nah, dass ich manchmal eifersüchtig auf seine Freunde bin.«
Herzdame. Rose in der Hand, geheimnisvolles Lächeln.
Carmen, Andrijs kubanische Exfreundin. »Wir waren zusammen auf der Uni. Sie hat
mir ein wenig Spanisch beigebracht. Nicht Castellano, sondern die kubanische
Aussprache. Die gleiten durch die Laute hindurch, ganz weich.«
»Was ist passiert?«, fragt Kate und bereut es sofort. Zu
aufdringlich, zu unprofessionell.
»Sie wollte in ihr Land zurückkehren, und ich wollte
meines nicht verlassen«, sagt Andrij.
Kate öffnet den Mund, weil sie sagen will: »Wartet jetzt
jemand zu Hause auf Sie?«, doch sie verkneift es sich. Vielleicht aus Angst,
dass er ihr die gleiche Frage stellen könnte.
Herzkönig. Grauer Bart, schwarzes Kreuz. Der Tod von
Andrijs Großvater. »Er hatte ein phänomenales, enzyklopädisches Geschichtswissen.
Er weigerte sich, den Politikern zuliebe historische Fakten zu glätten, also
warfen sie ihm Nationalismus vor, und seine Bücher und Artikel wurden nicht
mehr veröffentlicht. Sie haben ihn vernichtet - er hat bis zu seinem Todestag
in Angst gelebt. Nicht Angst um sich selbst, sondern um uns. Ich werde ihnen
nie verzeihen, was sie ihm angetan haben. >Geh vorsichtig mit der Geschichte
um, Andrij <, hat er oft zu mir gesagt. Jedes Mal, wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher