Sheylah und die Zwillingsschluessel
hatten nicht einmal die Zeit, nach links oder rechts zu schauen. Sheylah war es recht, so fiel sie wenigstens nicht auf. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, blendete die Geräuschkulisse aus und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, dämmerte es bereits. „Verdammt“, fluchte sie und sprang auf. Sie hatte sich doch bloß ein paar Minuten ausruhen wollen. Sie rieb sich den vom Schlafen verspannten Nacken und schaute sich um. Es waren nur noch wenige Menschen unterwegs.
Oh Mann, sie würde riesen Ärger bekommen, wenn sie zurück war. Aber wo war nochmal das Schloss? Rings um sie herum reihten sich mehrstöckige Häuser aneinander und nahmen ihr die Sicht. Sie konnte sich noch an die Stelle erinnern, wo sie Madriko getroffen hatte, brauchte aber fast eine Stunde, um dorthin zu gelangen. Als sie dort war, war es endgültig dunkel geworden. Es waren noch einige Menschen unterwegs, aber statt der Händler, der Mütter mit ihren Kindern und den adligen Damen sah Sheylah nur Bettler, finster dreinblickende Männer in dunklen Umhängen und andere zwielichtige Gestalten. Jetzt hätte sie sich gern ein paar Wachen herbeiwünscht. Sie stand unmittelbar an der Stelle, wo die Pferdekutsche gestanden hatte, aber vom Schloss war weit und breit keine Spur. Wieso musste Torga so verdammt unübersichtlich und groß sein? Sheylah sah sich weiter nach dem Schloss um und fand es nicht, stattdessen sah sie etwas anderes. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber sie sah ganz deutlich eine Frau in einem wehenden blauen Kleid um eine Ecke verschwinden. „Neela“, rief sie überrascht und stürmte ihr hinterher. Sie war so darauf konzentriert, Neela nicht aus den Augen zu verlieren, dass sie versehentlich ein paar Menschen umrannte, doch das war ihr egal. Als Sheylah um die Ecke bog, in der sie Neela vermutete, blieb sie stehen. Vor ihr erstreckten sich zwei schmale, dunkle Gassen. Beide sahen nicht sehr einladend aus, doch Sheylah musste sich schnell entscheiden, wenn sie Neela nicht verlieren wollte. Welchen Weg hatte sie bloß genommen? Sheylah entschied sich für die linke Gasse und rannte hinein. Nach ein paar Metern wurde sie jedoch langsamer, denn es war so dunkel, dass sie keinen halben Meter weit schauen konnte. „Neela, bist du da?“ Keine Antwort. „Ich bin’s, Sheylah.“ Ein Rascheln, dann Stille. Sie versuchte es noch ein paar Mal, doch niemand antwortete ihr. Vielleicht hatte sie den falschen Weg genommen. Sheylah ging noch tiefer in die Gasse herein, bog um eine weitere Ecke und atmete erleichtert auf, als es am Ende der Gasse heller wurde. Sie trat aus der Gasse heraus und begutachtete die unheimliche Gegend. Es war totenstill und kein Mensch auf den Straßen. Nur ein streunender Hund, der auf der Straße lag. Als er Sheylah entdeckte, rannte er winselnd davon. Sheylah wurde mit jedem weiteren Schritt unsicherer, ob sie die Verfolgung nicht doch abbrechen sollte. Sie hatte die vage Vermutung, dass sie nicht hier sein sollte, dass sich keine Frau um diese Uhrzeit in dieser Gegend aufhalten sollte. Trotzdem ging sie weiter. Sie vertraute auf ihr gutes Gehör und ihre Schnelligkeit, die ihr im Zweifelsfall behilflich sein würden. Die Häuser schienen immer enger zusammenzurücken und bald konnte Sheylah kein Licht mehr am Ende sehen. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Das war eine Sackgasse, aus der es kein Entkommen gab. Zu beiden Seiten waren die Gebäude so beschädigt, dass sie unbewohnbar sein mussten - vermutete sie zumindest. Neela könnte sich in einem von ihnen versteckt haben. Vielleicht war etwas schiefgelaufen und Neela hatte die Stadt nicht rechtzeitig verlassen können. In diesem Fall wäre es nur logisch gewesen, dass sie nicht zum Schloss zurückgekehrt war, sondern sich die Nacht über verstecken musste, um es am Morgen noch einmal zu versuchen.
Wer weiß? Sheylah schaute hinter sich und sah in hundert Metern Entfernung ein heruntergekommenes Lokal. Die Spelunke befand sich genau auf der gegenüberliegenden Seite der Sackgasse und Sheylah fragte sich, ob Neela dorthin verschwunden war. Sie kehrte der Sackgasse den Rücken zu und steuerte das Lokal an. Kurz bevor sie die heruntergekommene Kneipe erreicht hatte, ertönte auf einmal ein merkwürdiges Geräusch über ihrem Kopf. Sie schaute in den dunklen Himmel und sah einen schwarzen Umriss in der Luft. Es war der Umriss eines Vogels, aber so gewaltig, dass Sheylah zunächst glaubte, zu träumen. Ein Krächzen
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