Sheylah und die Zwillingsschluessel
standhalten. Er stand nun direkt vor ihr, berührte sie aber nicht und Sheylah war froh darüber. Denn hätte er sie angefasst, wäre sie sicher zusammengebrochen. Ihre Knie schlotterten bereits. „Du bist wie sie. Sie ist auch immer so wunderschön verlegen geworden.“ „Du meinst Zizilia“, sagte sie, immer noch auf den Boden starrend. Er seufzte. „Ich bin dir eine Erklärung schuldig. Warum ich dir aus dem Weg gegangen bin und wieso ich dir solchen Kummer bereitet habe“, begann er. Sie konnte seinen warmen Atem auf der Stirn spüren und musste nach Luft schnappen. Ging es nur ihr so oder war es wirklich heiß geworden? Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sich sicher war, er konnte es hören. Sie wagte es jedoch immer noch nicht, ihn anzusehen, aus Angst, sich dann nicht mehr kontrollieren zu können. „Ich habe alles gehört, du brauchst mir nichts zu erklären“, antwortete sie mit zittriger Stimme. „Was machst du dann hier?“, wollte er wissen. Gute Frage. Was tat sie eigentlich hier, außer sich zum Narren machen? „Du hast recht, vielleicht … wäre es besser, wenn ich … gehe“, stotterte sie. „Sieh mich an, Sheylah“, bat Andrey und hob ihr Kinn. Doch anstatt ihn anzusehen, starrte sie auf seine Lippen. Andrey lachte und es klang wunderbar in ihren Ohren. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so herzhaft lachen gehört zu haben. „Du bist unmöglich. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her. Sheylah, völlig perplex, folgte ihm und ließ sich in einen großen Garten führen, welcher von meterhohen Hecken umgeben war. Der Garten war nicht so prachtvoll wie der des Grafen, aber dennoch äußerst ansehnlich. In der Luft lag ein dichter Nebel, welcher in der Mitte des Gartens so konzentriert war, dass selbst Sheylahs Augen ihn nicht zu durchdringen vermochten. Ein schabendes, kratzendes Geräusch erklang aus seinem Inneren und Sheylah zuckte zusammen. Andrey führte sie näher heran und musste sie ziehen, weil sie sich sträubte. Irgendetwas war da drin. Als sie unmittelbar davor standen, ließ er Sheylah los, stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Plötzlich ragte etwas Schwarzes aus dem Nebel. Nur ganz kurz, dann zog es sich wieder zurück. Sheylah erschrak und umklammerte Andreys Hände. War das gerade ein Flügel gewesen? „Andrey, was ist das?“, fragte sie und schaute zu ihm hoch. „Das wirst du gleich sehen“, antwortete er und zwinkerte ihr zu. Na gut, wenn Andrey so ruhig blieb, konnte es nicht so gefährlich sein. Sie entspannte sich ein wenig und starrte gebannt in den Nebel. „Sie ist eine Freundin, du kannst den Nebel jetzt verschwinden lassen“, sagte er in die Schwaden hinein. Der Nebel löste sich langsam auf und zum Vorschein kam eine schwarze Gestalt, die auf einem Holzständer saß. Sheylah brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es sich um einen Raben handelte. Daran war an sich nichts Ungewöhnliches. Sheylah mochte Raben, doch dieser hier war so groß, dass er Sheylah beinahe überragte. Sein Schnabel war gewaltig und die Federn so tiefschwarz, dass alles andere in seiner Umgebung leuchtete. Sheylah betrachtete den Vogel ehrfürchtig und vermutete ihn stark genug, einen ausgewachsenen Menschen tragen zu können. Es war wirklich unglaublich, wie groß das Tier war. Andrey löste sich von Sheylah und ging zu ihm. Dabei beobachtete er sie aufmerksam, als fürchtete er, dass sie schreiend davonlief. Er streichelte den Kopf des Raben und flüsterte ihm etwas zu. Doch die Aufmerksamkeit des Tieres war allein auf Sheylah gerichtet. Ihr fiel auf, dass er die Augen eines Menschen hatte. „Ist das … ein Kaltes Wesen?“, fragte sie. Andrey nickte. „Das ist der Rabe, den ich an dem Abend über der Spelunke kreisen gesehen habe“, erinnerte sie sich. „Er hat uns zu dir geführt“, bestätigte Andrey. „Ich kann seine Gedanken nicht hören“, stellte sie fest und gesellte sich zu Andrey. Ganz leicht berührte sie die Flügel des Raben und dieser drehte langsam seinen Kopf zu ihr. »Ja. Sie ist ihr Ebenbild«, antwortete Andrey auf seine unausgesprochene Frage hin. An Sheylah gewandt, sagte er: „Du wirst seine Gedanken lesen, wenn du soweit bist.“ „Er ist wunderschön“, schwärmte sie. „Woher hast du ihn?“ Andrey schaute sie vorsichtig an, bevor er antwortete. „Er hat einmal Zizilia gehört.“ Vielleicht dachte er, es
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