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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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aufhörten, als eigenständige Gruppe zu existieren. Die Verfolgungen nahmen verschiedene Formen an. Sie mussten an ihrer Kleidung das ins Auge fallende Zeichen der Cagots in Gestalt eines Gänsefußes tragen. Sie durften nicht barfuß gehen. Sie durften keine Waffen tragen. Sie durften keine öffentlichen Plätze besuchen, und selbst beim Betreten einer Kirche mussten sie eine speziell für sie eingebaute niedrige Seitentür benutzen, die noch heute in vielen Dorfkirchen zu sehen ist. Sie durften bei der Messe nicht neben den anderen Gläubigen sitzen und nicht das Kreuz küssen. Sie konnten zwar Land pachten und es bebauen, aber sie durften ihre Produkte nicht verkaufen. Bei Todesstrafe war ihnen verboten, außerhalb ihrer Gruppe zu heiraten oder sexuelle Beziehungen zu pflegen.
    Alles, was den Cagots blieb, waren die handwerklichen Berufe. Viele Jahrhunderte lang waren sie, dies war eine Beschränkung und zugleich ein Privileg, die einzigen Holzfäller, Zimmerleute und Tischler des Landes. Später rekrutierten sich aus ihren Reihen auch die baskischen Maurer und Weber. Weil man ihre missgestalteten Körper komisch fand, wurden sie zu den Wandermusikanten und Schauspielern ihrer Zeit, und das meiste von dem, was heutzutage im Baskenland als Volkskunst und -brauchtum bewundert wird, stammt in Wirklichkeit von den verachteten Cagots.
    Lange war man der Ansicht, die Cagots seien ein eigenes Volk, das aus dem östlichen Europa stammte und das die Westgoten vor sich hergetrieben hatten, bis sie, wie Endmoränen vor einem Gletscher, in den unwirtlichen Pyrenäen deponiert wurden. Doch die jüngste Forschung hat Anzeichen dafür gefunden, dass es sich um isolierte Gruppen baskischer Aussätziger handelte, ursprünglich aus Gründen der Prophylaxe geächtet, durch ihre Krankheit körperlich geschwächt und durch erzwungene Inzucht schließlich mit deutlich erkennbaren Charakteristika gezeichnet. Diese Theorie würde auch einen großen Teil der verschiedenen Beschränkungen, die ihnen auferlegt wurden, erklären.
    Der Volksmund behauptet, die Cagots und ihre Nachkommen hätten keine Ohrläppchen gehabt. Bis auf den heutigen Tag werden in den traditionsgebundeneren Baskendörfern kleinen Mädchen im Alter von fünf bis sechs Jahren die Ohrläppchen durchstochen, damit sie Ringe darin tragen können. Ohne den Grund für diese Tradition zu kennen, folgen die Mütter dem uralten Brauch, um zu demonstrieren, dass ihre Töchter Ohrläppchen besitzen.
    Heute sind die Cagots verschwunden; sie sind entweder ausgestorben oder sie haben sich mit der baskischen Bevölkerung vermischt (es ist riskant, Letzteres in einer baskischen Kneipe auszusprechen), und ihr Name wird nur noch als Schimpfwort für bucklige alte Frauen benutzt.
    Der junge Dichter, dessen Sensibilität durch die Ereignisse verhärtet worden war, wählte Le Cagot als Pseudonym, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf die prekäre Situation der zeitgenössischen baskischen Kultur zu lenken, die Gefahr läuft unterzugehen wie die unterdrückten Barden und Minnesänger vergangener Zeiten.
    Kurz vor sechs trottete Pierre zum Dorfplatz von Etchebar hinunter; die kumulative Wirkung seiner gleichmäßig über den Tag verteilten Schoppen hatte ihn inzwischen so weit von der Tyrannei der Schwerkraft befreit, dass er halb gleitend, halb schwebend in Richtung Volvo zu navigieren vermochte. Er sollte zwei Ensembles abholen, die Hana telefonisch bestellt hatte, nachdem sie Hannah nach ihrer Kleidergröße gefragt und sie in europäische Maße umgerechnet hatte. Und außer den Kleidern sollte Pierre dann noch drei Dinnergäste aus dem Hotel Dabadie abholen. Nachdem er den Türgriff zweimal verfehlt hatte, zog Pierre seine Baskenmütze tiefer in die Stirn und konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf die nicht unbeträchtliche Aufgabe, in den Wagen zu steigen, was ihm zuletzt auch tatsächlich gelang. Doch da fiel ihm plötzlich ein, dass er etwas vergessen hatte. Er schlug sich an die Stirn, stieg umständlich wieder aus, versetzte dem hinteren Kotflügel, M’sieur Hels Ritual imitierend, einen kräftigen Tritt und zwängte sich auf den Fahrersitz zurück. Bei seinem angeborenen, typisch baskischen Misstrauen allem Technischen gegenüber beschränkte Pierre den Gebrauch der Gänge stets auf den ersten und den Rückwärtsgang und fuhr grundsätzlich mit gezogenem Choke, wobei er die ganze Straßenbreite samt beiden Rändern beanspruchte. Vereinzelte Schafe, Kühe, Menschen und

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