Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
beim Laufen eine unglaubliche Ausdauer. Ich glaube, er hat an Marathons teilgenommen, aber … ach, ich bin mir nicht sicher. Es sind so viele Jahre seitdem vergangen.«
Montoya betastete die verblichene Fotografie. »Gibt es Fotos von allen, die hier gelebt haben?«
»Nur von der Belegschaft, in den Personalakten.«
»War Heller noch im Krankenhaus beschäftigt, als Faith ums Leben kam?«
»Er war in jenem Moment sogar in ihrem Zimmer«, gestand sie. »Er war Zeuge ihres Sturzes, hat sie aber nicht retten können. Die Anzeige wegen sexueller Belästigung wurde erst nach ihrem Tod erhoben. Und dann wurde ihm nahe gelegt, die Institution zu verlassen.«
Mit äußerster Konzentration betrachtete Montoya das Bild des Mannes. Seine Arroganz trat deutlich zutage. Montoya dachte an das Foto von Abbys Mutter, das er in Abbys Bücherregal gesehen hatte. Eine schöne Frau mit einem verführerischen Lächeln – dem Lächeln, das sie ihrer Tochter vererbt hatte. Faith war also Simon Hellers unfreiwillige Geliebte gewesen.
Montoyas Inneres verkrampfte sich. Was war nun wirklich am Tag von Faith Chastains Tod geschehen? War ihr Sturz tatsächlich ein Unfall gewesen? Oder hatte Heller, vielleicht in dem Wissen, dass der Vorwurf der sexuellen Belästigung drohte, dem Opfer einen Stoß versetzt?
Die ehrwürdige Mutter räusperte sich. »Faiths Tochter war Zeugin des Sturzes. Sie war erst einen Augenblick zuvor ins Zimmer gestürmt.«
»Welche Tochter?«, fragte Montoya, obwohl er die Antwort längst kannte. Schließlich war er Zeuge von Abbys Albträumen geworden.
»Die jüngere …«
»Abby.«
»Ja, so heißt sie. Abigail, aber Faith hat sie häufig auch Dana genannt.«
»Wissen Sie, aus welchem Grund?«
»Ich kann mich nicht entsinnen, obwohl ich damals in der Anstalt gearbeitet habe. Die Tochter war erst fünfzehn Jahre alt. Sie hatte ebenfalls Geburtstag, am selben Tag wie Faith. Anscheinend ist sie ins Zimmer gestürmt, hat Dr. Heller dort gesehen … und mehr weiß ich nicht. Irgendwie ist Faith aus dem Fenster gestürzt. Dana war so geschockt, dass sie das Bewusstsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, erinnerte sie sich an kaum etwas.« Dass die Geschichte der Mutter Oberin arg zusetzte, war nicht zu übersehen. »Ich fürchte, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Das macht nichts«, erwiderte Montoya, und es war sein Ernst. Simon Heller. Montoya wusste, wo er zu suchen hatte. Er konnte nur hoffen, dass es nicht zu spät war, den nächsten Mord zu verhindern.
26.
I m Wald versteckt, beobachtete er ihr Haus. Da es noch hell war, erst später Nachmittag, achtete er sorgsam darauf, dass die Linsen seines Fernglases nicht die Sonnenstrahlen reflektierten und Abby warnten. Er hatte auch die Windrichtung berücksichtigt, damit ihr blöder Hund ihn nicht witterte.
Wie lästig.
Alles war bereit, die Bühne stand. Jetzt brauchte er nur noch die Spieler, und zwei von ihnen befanden sich im Haus. Er hatte vor zu warten, bis sie eingeschlafen waren, aber das konnte noch Stunden dauern.
Geduld, ermahnte er sich. Bloß nichts überstürzen.
Aber er war angespannt.
Begierig.
Und die Schmerzen in seiner Brust wurden wieder heftiger, als hätte er sich irgendwie einen Infekt zugezogen.
Die Schwester lag halb auf dem Sofa, ließ die Füße über die Armlehne baumeln. Ihr Weinglas stand auf dem Tisch, die Fernbedienung hielt sie in der Hand. Das war gut so.
Trink aus, große Schwester. Lass dich vom Wein einlullen, entspann dich. Geh früh schlafen … o ja.
Es würde nicht schwer sein, Zoey zu überwältigen.
Ganz anders Abby … Bei ihr waren alle Sinne hellwach, er spürte es. Als sie anfing, Gegenstände aus ihrer Garage und der Küche zusammenzupacken und zum Auto zu tragen, erwachte seine Sorge. Es sah aus, als hätte sie beschlossen wegzufahren. Das konnte er nicht zulassen. Sie hatte einen Werkzeugkasten, eine Brechstange und eine Taschenlampe eingepackt.
Wozu?
Kopfschmerzen pochten hinter seiner Stirn, und seine Erregung steigerte sich. Durch den Neoprenanzug kratzte er sich an der Brust, bis er sich Einhalt gebot.
Beruhige dich. Beobachte sie. Sie wird nicht weit fahren. Du hast keinen Koffer gesehen, oder? Kein Übernachtungsgepäck.
Aber das bedeutete ja nicht, dass sie es nicht schon in den Wagen geladen hatte, bevor er seinen Posten bezog. Plante sie eine Art Campingausflug? Mit dem Cop? Bei dem Gedanken wurde ihm flau im Magen, er musste heftig blinzeln, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen.
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