Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
kurzem verknipst, hatte Ansel auf der Veranda aufgenommen, als die Spätherbstsonne hinter den Bäumen unterging. Später hatte sie dann die Negative entwickelt und einen Kontaktabzug. Diesen hatte sie mit einer Wäscheklammer an einer quer durch die Dunkelkammer gespannten Leine befestigt und einfach dort hängen lassen.
Von ihrer Absicht, sich nach dem Trocknen näher mit dem Abzug zu befassen, hatte Detective Montoyas erster Besuchsie abgehalten. Und danach hatte sie nicht mehr daran gedacht.
Nun nahm sie den Kontaktabzug von der Leine, verließ die Dunkelkammer und setzte sich an den Schreibtisch in ihrem Atelier. Dann regulierte sie die Lampe so, dass sie gut sehen konnte, holte ihre Lieblingslupe aus einer Schreibtischschublade und machte sich daran, jede Aufnahme sorgfältig zu begutachten. Wenn sie Bilder von Ansel sah, wie er schlief, auf der Pirsch war oder sich unter dem Sofa versteckte, musste sie lächeln. In aller Ruhe prüfte sie bei jedem Bild, ob der Gegenstand deutlich erfasst und das Licht richtig war.
Bei der dritten Reihe rang sie plötzlich nach Luft. »O Gott!«
Um ein Haar wäre ihr die Lupe aus der Hand geglitten.
Das Gesicht ihres verstorbenen Mannes starrte sie an.
Mit seinem unbekümmerten Lächeln, dem Hauch eines Grübchens und sexy geschwungenen Lippen blickte er ihr in Schwarzweiß entgegen.
Sie rutschte mit dem Stuhl ein wenig zurück, als hätte sie Angst, das Bild könnte sich plötzlich in den leibhaftigen Mann verwandeln.
Sie hatte völlig vergessen, dass sie das Foto noch aufgenommen hatte, kurz bevor sie sich entschloss, künftig eine Digitalkamera zu benutzen. Luke hatte neue Passfotos gebraucht, und sie hatte ihn fotografiert.
Kurz nach dem Fototermin hatte sie von seinem Verhältnis mit Connie Hastings erfahren. Am selben Nachmittag noch hatte sie ihren Anwalt aufgesucht, Luke nahegelegt auszuziehen und erste Schritte zur Scheidung ihrer Ehe eingeleitet.
Wie lange war es her, dass sie die Fotos geschossen hatte? Achtzehn Monate? Zwei Jahre? Es war egal.
Abby stellte fest, dass das Foto gelungen war. Es hatte Lukes unbeschwerte Art eingefangen, dieses Jungenhafte, in das sie sich viele Jahre zuvor verliebt hatte.
Und jetzt war das Foto nutzlos.
Es sei denn, sie würde es seinen Eltern schenken.
Aber sollte sie in dieses Wespennest stechen? Seine Mutter hatte nie geglaubt, dass ihr Sohn ein Schürzenjäger war, behauptete immer, eine starke Frau wüsste schon, wie sie ihren Mann halten kann.
»Vergiss es«, sagte Abby laut und strich die Aufnahme kreuzweise durch. Die Fotos von Hershey, Ansel und dem Tierleben rund um ihr Haus würde sie später vergrößern. Für heute hatte sie genug Spaß gehabt.
Sie schloss das Atelier hinter sich ab und ging die paar Schritte bis zum Haus. Es war immer noch dunkel, kein Lichtstreifen am Horizont kündigte die Morgendämmerung an.
Hershey wartete auf der Matte vor der Tür, den großen braunen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. »Du bist wirklich ein braves Mädchen«, flüsterte Abby. Sie kraulte die Hündin hinter den Ohren, sagte: »Das dürfte ich jetzt eigentlich nicht tun, also verpetz mich nicht, okay?«, griff im Vorratsraum in die Schachtel mit Hundekuchen und warf der Labradorhündin einen zu. Hershey fing ihn im Flug und trug ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihn krachend verspeiste.
»Komm, wir gehen wieder ins Bett und versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen.« Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte kurz nach fünf. Abby stöhnte auf. Jetzt wieder einzuschlafen war nahezu unmöglich, und um neun Uhr hatte sie einen Beratungstermin in ihrem Studio. Also musste sie spätestens um halb acht aufstehen. Sie machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, doch Hershey, die ihr folgte, blieb vor den Flügeltüren abrupt stehen.
»Musst du schon wieder raus?«
Die Hündin starrte nach draußen, und langsam richtete sich ihr Nackenfell auf. Sie knurrte tief in der Kehle.
»Oh, nun hör schon auf«, flüsterte Abby. Montoyas Warnung schoss ihr durch den Kopf. Hatte sie die Tür hinter sich abgeschlossen, als sie zurück in die Küche kam?
Abby schaltete überall das Licht aus, so dass das Haus im Dunkeln lag. Dann spähte sie ebenfalls aus dem Fenster, sah aber nichts in der pechschwarzen Nacht.
»Das ist sicher nur ein Waschbär«, sagte sie, und der Hund knurrte erneut. Leise. Grollend. Eine Warnung.
»Komm schon, Hershey, du machst mir Angst.« Sie dachte an die Waffe im Nachttisch und fragte sich, ob sie je die Nerven
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