Shogun
Nacken. »Verzeiht, daß ich ungebeten vorspreche. Ich – ich hing gerade Tagträumen nach, weiter nichts. Ich erinnerte mich, viele gute Dinge hier in Japan miterlebt zu haben. Mir ist, als hätte ich mein ganzes Leben hier verbracht und nirgends sonst.«
»Für uns ist es ein Gewinn gewesen, Tsukku-san.«
Toranaga ging müde auf die Estrade zu und nahm auf dem einfachen Sitzkissen Platz. Schweigend bildeten die Wachen einen schützenden Ring um ihn.
»Ihr seid im dritten Jahr des Tensho hergekommen, nicht wahr?«
»Nein, Euer Gnaden, im vierten. Im Jahr der Ratte«, erwiderte er und bediente sich ihrer Zeitrechnung, die zu begreifen ihn Monate gekostet hatte. Alle Jahre wurden von einem bestimmten Jahr an gezählt, das der jeweils regierende Kaiser auswählte. Eine Katastrophe oder ein Glücksfall konnten nach seiner Laune das Ende einer Ära oder den Beginn einer neuen bedeuten. Gelehrte wurden beauftragt, einen besonders glückverheißenden Namen aus den alten Schriften Chinas für das neue Zeitalter auszuwählen, das dann ein Jahr, aber auch fünfzig Jahre dauern konnte. Tensho bedeutete soviel wie ›Himmlische Gerechtigkeit‹. Das Jahr davor war die Zeit der großen Flutkatastrophe gewesen, in der zweihunderttausend ihr Leben gelassen hatte. Außer dem Namen bekam jedes Jahr auch noch ein Attribut – genauso wie die aufeinanderfolgenden Stunden des Tages: Ratte, Ochse, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Hahn, Hund und Eber. Das erste Jahr des Tensho war in das Jahr des Hahns gefallen, und daraus ergab sich, daß das Jahr 1576 das Jahr der Ratte im vierten Jahr des Tensho war.
»Es ist viel geschehen in diesen vierundzwanzig Jahren, neh, alter Freund?«
»Jawohl, Euer Gnaden.«
»Ja. Der Aufstieg Gorodas und sein Tod. Der Aufstieg des Taikō und sein Tod. Und jetzt?« Seine Worte hallten von den Wänden wider.
»Das liegt in der Hand des Unendlichen.« Alvito bediente sich eines Ausdrucks, der ebensogut Gott wie Buddha bedeuten konnte.
»Ach, Tsukku-san, Ihr seid ein weiser Mann. Wie kann jemand, der so jung ist, schon so weise sein?«
»Ich wünschte aufrichtig, ich wäre es, Euer Gnaden. Dann könnte ich von größerer Hilfe sein.«
»Ihr wolltet mich sprechen?«
»Jawohl. Ich hielt es für wichtig genug, auch unaufgefordert zu kommen.«
Alvito holte Blackthornes roteiros hervor, legte sie vor ihm auf den Boden und gab dazu jene Erklärung ab, die dell'Aqua vorgeschlagen hatte. Er sah Toranagas Züge sich verhärten, und darüber war er froh.
»Beweis für sein Piratentum?«
»Jawohl, Euer Gnaden. Die roteiros enthalten sogar den genauen Wortlaut der Befehle. Unter anderem heißt es darin: ›Falls nötig, gewaltsam zu landen und jedes erreichte oder neuentdeckte Land in Besitz zu nehmen.‹ Wenn Ihr es wünscht, könnte ich eine genaue Übersetzung aller wichtigen Passagen anfertigen.«
»Übersetzt mir alles, und zwar rasch«, sagte Toranaga.
»Und da ist noch etwas, was Ihr, wie der Pater Visitator meint, wissen solltet.« Alvito erzählte Toranaga alles über die Karten und Berichte und das Schwarze Schiff, wie es abgesprochen worden war, und er freute sich darüber, wie Toranaga reagierte.
»Ausgezeichnet«, sagte Toranaga. »Ihr seid sicher, daß das Schwarze Schiff frühzeitig eintrifft? Ganz sicher?«
»Jawohl«, versicherte Alvito ihm fest. O Gott, mach, daß es so geschieht, wie wir hoffen.
»Gut. Übermittelt Eurem Herrn, daß ich mich auf seine Berichte freue.«
»Er hat gesagt, er werde sie so rasch wie möglich fertigstellen. Wir werden Euch die Karten wie gewünscht schicken. Wäre es wohl möglich, daß der Generalkapitän seine Hafenpapiere bald erhält? Das würde sehr hilfreich sein, wenn das Schwarze Schiff frühzeitig eintreffen soll, Toranaga-san.«
»Ihr garantiert, daß das Schiff frühzeitig eintrifft?«
»Kein Mensch kann für Wind und Sturm und See garantieren. Auf jeden Fall aber wird das Schiff frühzeitig aus Macao auslaufen.«
»Ihr werdet sie noch vor Sonnenuntergang in Händen haben. Noch etwas? Ich werde drei Tage lang nicht zu sprechen sein – bis zum Abschluß der Sitzung des Regentschaftsrats.«
»Nein, Euer Gnaden. Ich danke Euch. Ich bete, daß der Unendliche seine Hand über Euch hält.«
Alvito verneigte sich und wartete darauf, entlassen zu werden, doch statt dessen schickte Toranaga seine Wachen weg.
Es war das erste Mal, daß Pater Alvito einen Daimyo unbewacht erlebte.
»Kommt und setzt Euch hierher, Tsukku-san.«
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