Shotgun Lovesongs
länger wurden. Trotzdem fühlte es sich an wie in Sibirien, so als lebten wir in irgendeinem lappländischen Provinznest, wo sich alle Nase lang jemand erhängte. »Ach, was soll’s, machen Sie einfach drei. Sie sollten auch einen davon trinken. Ich lade Sie ein.« Ich streckte meine Hand über den Tresen. »Ich heiße Beth.«
Die Barkeeperin machte einen Schritt vor und schüttelte meine Hand. »Joyce.« Sie stellte drei Cocktailgläser auf den Tresen. »Ich weiß, wer Sie sind, Mrs Brown. Sie sind Henrys Frau, stimmt’s? Sie kommen zwar nicht oft hierher und ich komme nicht oft hier raus, aber das heißt nicht, dass ich nicht weiß, was da draußen in der Welt so vor sich geht. Ich kenne so ungefähr jeden hier – oder weiß jedenfalls, wer wer ist.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Joyce.« Ein wenig beschämt erinnerte ich mich plötzlich, dass Joyce früher in unserer Grundschule arbeitete. Sie kochte das Essen, das wir damals mittags bekamen, und tat es vielleicht heute immer noch für meine Kinder. Sie war alt geworden. Der Zigarettenrauch und Alkohol hatten ihre Haut grau und ihre Finger gelb werden lassen. Sie sah ziemlich heruntergekommen aus.
»Also, was, sagten Sie, ist jetzt in diesen –«, und hier hielt Joyce einen Moment inne und schaute mich mit einem halben Grinsen an, »Buttery Nipples?«
»Karamellschnaps, Irish Cream und Midori-Likör. Aber ich glaube, Sie können zur Not auch Zimtschnaps nehmen. Ich weiß es nicht mehr so genau.« Ich hatte schon seit Jahrenkeinen mehr davon getrunken. Aber plötzlich war es mir wieder eingefallen, das perfekte Heilmittel für einen zutiefst deprimierenden Nachmittag.
Joyce nickte, griff sich ein paar Flaschen und goss von jeder etwas in die Gläser. »Also, was ich bei so ’ner Gelegenheit immer vorschlage, ist, einen kleinen Geschmackstest zu machen. Wie wär’s? Sie schmeißen diese Runde und ich die nächste. Dabei verfeinern wir sozusagen das Rezept. Und wenn wir’s dann immer noch nicht ganz raushaben, tja, dann glaube ich, hätte Ihre Freundin da drüben auch nichts gegen eine dritte Runde.« Sie stellte die drei Cocktailgläser auf ein Tablett und kam hinter dem Tresen hervor. »Hier, ich bring Ihnen die mal zu Ihrem Tisch. Das wäre doch schrecklich, wenn wir so einen Buttery Nipple auf unseren schönen sauberen Boden hier fallen lassen würden.«
Ich schaute auf meine Winterstiefel. Sie standen auf einem Schutthaufen aus Erdnussschalen, abgebrannten Streichhölzern, Pennys und plattgetretenem Kaugummi. Ich folgte Joyce zu unserer Nische, wo sich Felicia gerade hastig die Tränen aus dem Gesicht wischte. Joyce stellte die Gläser liebevoll auf den Tisch. »Auf ein neues Jahr«, sagte sie. »Das letzte konnte man nämlich echt in die Tonne hauen, Scheiße noch mal.« Felicia gab überrascht ein bellendes Gelächter von sich. Das plötzliche Lächeln auf ihrem Gesicht war ermutigend. »Prost«, sagten wir gemeinsam, stießen mit den Gläsern an und leerten sie in einem Rutsch.
»Was war das denn?«, fragte Felicia.
Joyce nickte anerkennend. »Nicht schlecht«, sagte sie. »Wirklich nicht schlecht.«
»Buttery Nipples«, sagte ich mit breitem Grinsen. »Das waren Buttery Nipples.«
Einen Moment lang bereute ich es, die Cocktails bestellt zu haben. Felicia hatte mich schließlich hergebeten, um zu reden, und nicht, um sich zu betrinken. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich die Cocktails auch gar nicht für Felicia bestellt. Sie waren für mich. Felicia und ich waren auf dem besten Wege, Freundinnen zu werden. Oder vielmehr war sie längst meine Freundin geworden. Daran bestand kein Zweifel. Sie gehörte nicht wirklich zu uns – nicht im eigentlichen Sinne –, aber das war nicht ihre Schuld. Und es war mir klargeworden, dass ich diejenige war, der etwas entging, wenn ich sie weiterhin ignorierte. Sie hier im Ort zu haben, jemanden zu haben, den man anrufen konnte, mit dem man joggen gehen konnte – so etwas hatte ich nie gehabt, bevor sie und Kip in die Stadt gezogen waren. Und was auch nicht ganz unwichtig ist: Sie ist eine wirklich nette Frau. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie immer so unglaublich perfekt herausgeputzt ist und dass sie so intelligent und ehrgeizig und schön ist. In einer größeren Stadt hätte ich es mir vielleicht leisten können, sie zu hassen. Aber nicht hier. Nicht in Little Wing. Ich wäre auf jeden Fall wesentlich lieber mit Felicia befreundet als mit diesen Vampirinnen, die draußen am Rand der Stadt in ihren
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