Shutdown
Grund, weshalb sie die Nase rümpfte. Die Haare störten sie. Jerry trug langes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Das verlieh dem jungen Mann den coolen Look eines Bohemien, der ihr mit dem kurzen Haarschnitt völlig fehlte. Die Ausstrahlung stimmte nicht, was zu unangenehmen Fragen führen könnte. Mürrisch betrachtete sie ihr Foto, das sie eine wichtige Regel fürs künftige Leben lehrte: Trage niemals langes Haar auf einem falschen Ausweis.
»Alles in Ordnung?«, fragte eine ältere Dame, die sie besorgt beobachtete.
»Und bei Ihnen?«, gab sie spitz zurück.
Sie war nicht in der Stimmung für gesellschaftliche Schönfärberei. Die Frau eilte beleidigt hinaus, und Jen begann mit ihrer Verwandlung. Mangels Kamm befeuchtete sie ihr Haar und kämmte es mit bloßen Fingern nach hinten, um es glatter erscheinen zu lassen. Dann zog sie die Fischerweste mit den hundert Taschen über, setzte den Schlapphut auf und prüfte die Wirkung im Spiegel. Das Outfit ließ sie breiter, muskulöser erscheinen, etwas männlicher immerhin. Mehr konnte sie nicht tun, ohne aufzufallen. Nicht wirklich überzeugt verließ Jennifer Walker als Jerry Waller die Toilette.
»Das ist ein Damen-WC!«, warnte ein Mädchen mit vorwurfsvollem Blick an der Tür.
»Ich weiß«, grinste Jerry zufrieden.
Kapitel 12
San Jose, Kalifornien
Sie hatte sich unterschätzt. Die Einsicht reifte während des Aufenthalts in Phoenix. Die Terminals wimmelten von Uniformierten und Fahndern in Zivil, deren Beruf sie riechen konnte. Alle suchten Jen Walker, niemand interessierte sich für Jerry Waller. Der Körper war ihre angeborene Tarnung. Ohne künstlichen Schnurrbart und dunkle Brille, einfach durch ihr Verhalten und eine alte Fischerweste war sie zum Mann mutiert. Selbst ihr falscher Ausweis kümmerte auf der ganzen Reise keine Menschenseele, bis auf die Autovermietung am Flughafen von Oakland bei der Registrierung. Sie brauchte sich nur umzudrehen und ihr zweites Gesicht zu zeigen, glaubte sie – wie Janus, dessen Namen sie online benutzte. Ihre Selbstsicherheit wuchs mit jeder Meile, die sie sich San Jose näherte, wohin sich Jezzus zurückgezogen hatte.
»Nehmen Sie die nächste Ausfahrt zur Bird Avenue«, forderte die Stimme des Navigationsgeräts.
Sie folgte der von hohen Palmen und Platanen gesäumten Straße, bis sie in die Fuller Avenue abbiegen konnte. Auch Jezzus hatte sich eine perfekte Tarnung zugelegt. Das Haus, wo er seine Kindheit verbracht hatte, lag verträumt hinter Büschen und dem unvermeidlichen Rasenstück an der ruhigen Straße. Es war ein alter, hölzerner Bungalow wie all seine Nachbarn mit dem verstaubten Charme des amerikanischen Traums vergangener Generationen. Biederer und unauffälliger konnte man in dieser Gegend nicht wohnen. Umso mehr fiel ein fremdes Auto auf in dieser geschlossenen Gesellschaft und eine unbekannte Person, die offensichtlich etwas suchte, obwohl sie hier nichts verloren hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Frauenstimme aus dem Holunderbusch, sobald sie sich dem Haus näherte, das Jezzus ihr einst beschrieben hatte.
Sie drehte sich um, doch die Frau, deren abweisende Stimme so freundlich fragte, blieb unsichtbar.
»Ich bin ein Freund von Antonio Juarez«, sagte sie. »Das ist doch sein Haus?«
»Wenn Sie ein Freund sind, sollten Sie es wissen.«
Jen zählte innerlich bis drei, bevor sie antwortete:
»Ich war noch nie in seinem Elternhaus. Er wohnt doch erst seit Kurzem wieder in San Jose.«
Sie schien den Test bestanden zu haben. Die Frau zeigte sich in Gartenschürze und rotem Kopftuch. Sie war zwei Generationen älter als Jen.
»Antonio kommt wahrscheinlich gegen fünf«, sagte sie. »Kennen Sie den Jungen schon lange?«
Mindestens zwei Generationen , dachte Jen. Sie hatte den »Jungen« Jezzus stets als gesetzten, älteren Herrn gesehen, die gute Variante ihres Vaters.
»Wir haben ein paar Jahre zusammengearbeitet, oben an der Bay.«
Das Gesicht der alten Frau hellte sich auf.
»Wissen Sie, ich gebe ein wenig Acht auf sein Haus. Er ist ja den ganzen Tag weg. Ich kenne ihn seit seiner Geburt. Er ist ein guter Junge. Er und unser Anthony waren dicke Freunde.«
Sie zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Einen Augenblick sah es so aus, als trocknete sie eine Träne, dann sprach sie weiter:
»Es dauert noch mindestens eine Stunde, bis er zurückkehrt. Kommen Sie in mein Haus, da fällt es weniger auf, wenn Sie warten. Ich setze uns frischen
Weitere Kostenlose Bücher