Shutter Island
anzuzünden. »Abgemacht.«
Der Rauch zog durch Chucks gekrümmte Finger und wehte in Richtung Meer.
»Bis später«, sagte Teddy.
Chuck drehte sich nicht um. »Pass auf, dass du dir nicht das Genick brichst.«
Teddy schaffte es in sieben Minuten nach unten, drei Minuten weniger als angesetzt, weil er auf dem lockeren, sandigen Untergrund mehrmals ausrutschte. Er ärgerte sich, am Morgen lediglich Kaffee getrunken zu haben, denn sein leerer Magen knurrte. Die Unterzuckerung zusammen mit dem Schlafmangel ließen ihn schwindeln. Vor den Augen erschienen schwebende Lichtflecken.
Er zählte die Steine auf jedem Haufen und notierte sie zusammen mit ihrer alphabetischen Entsprechung im Block:
20(T) – 5(E) – 4(D) – 19(S) – 2(B) – 18(R) – 21(U) – 9(I)
Dann klappte er den Notizblock zu, steckte ihn in die Brusttasche und machte sich daran, den sandigen Abhang hochzusteigen. An der steilsten Stelle krallte er sich mit den Händen fest. Wenn er ausrutschte, riss er das Seegras büschelweise aus. Er brauchte fünfundzwanzig Minuten für den Aufstieg. Der Himmel nahm einen dunklen Bronzeton an, und Teddy wusste, dass Chuck Recht gehabt hatte, auf welcher Seite er auch stand: Der Tag ging zur Neige, das Ganze war Zeitverschwendung, egal, was der Code verraten mochte.
Jetzt würden sie den Leuchtturm wohl nicht mehr erreichen, und was dann? Falls Chuck dem Gegner zuarbeitete, dann war es so, als würde ein Vogel gegen einen Spiegel fliegen, wenn Teddy mit ihm zum Leuchtturm ging.
Teddy sah das obere Ende des Abhangs, den Rand des Felsgrats und den bronzefarbenen Himmel, der sich über allem wölbte. Er dachte: Vielleicht ist das jetzt alles, Dolores. Vielleicht ist es das Beste, was ich vorerst zu bieten habe. Laeddis wird weiterleben. Ashecliffe wird weiter bestehen. Wir werden uns mit dem Bewusstsein begnügen müssen, den Stein ins Rollen gebracht zu haben, eine Entwicklung angestoßen zu haben, die irgendwann alles zum Einsturz bringen könnte.
Oben fand Teddy einen Einschnitt, eine schmale Öffnung, wo der Hang auf den Felsgrat traf und so stark erodiert war, dass Teddy in der sandigen Mulde stehen, beide Hände auf den flachen Felsen über sich legen und sich gerade so weit hochdrücken konnte, dass er den Oberkörper hochhieven und dann die Beine nachziehen konnte.
Er lag auf der Seite und blickte hinaus aufs Meer. Zu dieser Tageszeit war es so blau, so lebendig, obwohl der Tag um es herum erstarb. Teddy lag dort, spürte den Wind im Gesicht und das Meer vor ihm, das sich unendlich unter dem dunkler werdenden Himmel erstreckte, und er fühlte sich so klein und absolut menschlich, aber es war kein lähmendes Gefühl. Es war ein sonderbar stolzes. Dazuzugehören. Er war ein Nichts, ja. Aber er gehörte dazu, war eins mit der Welt. Atmete.
Eine Wange auf den Stein gedrückt, schaute er über die dunklen flachen Felsen, und erst da fiel ihm auf, dass Chuck nicht mehr da war.
17
CHUCKS KÖRPER LAG unten vor den Klippen, Wellen rollten über ihn hinweg.
Teddy schob sich über den Rand des Felsgrats, tastete das Gestein vorsichtig mit dem Fuß ab, um zu prüfen, ob es sein Gewicht trug. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, von dem er gar nicht geahnt hatte, dass er in ihm steckte. Dann ließ er die Ellenbogen über den Rand gleiten und versank mit den Füßen zwischen den Steinen. Ein Stein rutschte, und sein rechter Fuß knickte um. Er versuchte, sich an der Felswand festzuhalten und drückte den Oberkörper dagegen. Der Fels unter seinen Füßen hielt.
Teddy drehte sich zum Meer um und ging in die Knie, bis er wie ein Krebs auf dem Vorsprung hockte. Dann kletterte er nach unten. Das ging nur sehr langsam. Einige Steine waren zwischen Felsen eingekeilt und stabil wie Tritteisen im Rumpf eines Schlachtschiffs. Andere wurden nur durch die Steine unter ihnen gehalten, und man merkte es erst, wenn man sein Gewicht darauf verlagerte.
Nach ungefähr zehn Minuten entdeckte Teddy eine von Chucks Luckies, zur Hälfte geraucht. Die schwarze Asche war kegelförmig abgebrannt wie die Spitze eines Tischlerbleistifts.
Warum war Chuck hinuntergestürzt? Der Wind hatte aufgefrischt, aber er war nicht stark genug, um einen erwachsenen Mann von einem Felsgrat zu wehen.
Teddy dachte an Chuck, der allein dort oben gesessen und seine letzte Zigarette geraucht hatte, er dachte an all die anderen, die ihm nahe gestanden hatten und gestorben waren, nur er, er sollte unbeirrt weitermachen. Dolores war tot. Sein
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