Shutter Island
verdoppelte sich schon beim bloßen Zusehen. Die langen Schwänze peitschten auf die Steine. Teddy spürte das Wasser an den Fersen und merkte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, und auch wenn er keine Angst hatte, machte sich nun doch ein Kribbeln an der Wirbelsäule bemerkbar, ein juckendes Gefühl an den Knöcheln.
Er begann, langsam am Ufer entlangzugehen. Es waren Hunderte von Ratten, die im Mondlicht die Felsen einnahmen wie Seehunde bei Sonne. Sie hüpften von den Steinen in den Sand, wo er noch gerade gestanden hatte. Er sah sich um. Was war von der kleinen Ecke noch übrig?
Nicht viel. Ungefähr dreißig Meter weiter ragte eine zweite Klippe ins Wasser und schnitt ihm den Weg ab. Rechts davon, draußen auf dem Meer, sah Teddy eine Insel, von deren Existenz er nichts gewusst hatte. Sie lag im Mondschein wie ein Stück braune Seife und sah aus, als würde sie jeden Moment fortgespült. Am ersten Tag war er mit McPherson oben auf den Klippen gewesen. Er hatte keine Insel gesehen. Das wusste er genau.
Wo also kam die verfluchte Insel her?
Jetzt konnte er die Ratten sogar hören, sie kämpften miteinander. Die meisten klickerten mit den Pfoten über die Felsen und quiekten sich an. Das Jucken an Teddys Knöcheln breitete sich bis zu seinen Knien und Oberschenkeln aus.
Er warf einen Blick zurück auf die Stelle, wo er noch kurz zuvor gestanden hatte. Der Sand war vor Tieren nicht mehr zu sehen.
Dankbar für den hell leuchtenden Mond und die zahllosen Sterne, schaute er die Klippe hinauf. Da fiel ihm eine Farbe auf, genauso störend wie die Insel, die vor zwei Tagen noch nicht da gewesen war.
Ein orangefarbener Fleck. Auf halber Höhe der größeren Klippe. Orange. In einem schwarzen Felsen. In der Dämmerung.
Teddy starrte hinauf: Der Fleck flackerte, wurde schwächer und glühte wieder auf, unaufhörlich. Er pulsierte richtiggehend.
Wie eine Flamme.
Eine Höhle, erkannte er. Oder wenigstens eine größere Felsspalte. Da war jemand. Chuck. Es musste Chuck sein. Vielleicht war er dem Zettel hinterhergeklettert. Möglicherweise hatte er sich verletzt und war nicht bis ganz nach unten gelangt, sondern wieder hochgestiegen.
Teddy nahm den Hut vom Kopf und steuerte auf den nächsten Findling zu. Fünf, sechs Augenpaare beobachteten ihn. Er schlug mit dem Hut nach den Ratten, sie zuckten zusammen und huschten mit ihren hässlichen Leibern vom Stein. Schnell stieg Teddy hinauf und trat nach den Tieren auf dem nächsten Block. Sie machten ihm Platz, und er mühte sich hoch, sprang von einem Findling zum nächsten. Auf den letzten hockten keine Tiere mehr. Schon erklomm er die Klippe. Seine Hände bluteten noch vom Abstieg.
Dennoch ging es an dieser Stelle besser. Sie war höher und deutlich breiter als die andere, stieg aber weniger steil an und bot mehr hervortretende Steine zum Festhalten.
Im Mondlicht brauchte er anderthalb Stunden. Die Sterne beobachteten ihn wie zuvor die Ratten, und beim Klettern kam ihm Dolores abhanden. Er konnte sie sich nicht mehr vorstellen, weder ihr Gesicht noch ihre Hände noch ihren breiten Mund. Seit ihrem Tod hatte er ihren Verlust nicht derart heftig empfunden. Er wusste zwar, dass es an der körperlichen Anstrengung, dem Schlafmangel und dem Hunger lag, aber dass sie ihm entglitten war, ließ sich nicht leugnen. Beim Klettern im Mondlicht hatte er sie verloren.
Aber er konnte sie hören. Auch wenn ihr Bild verschwunden war, hören konnte er sie noch. Sie sagte: Weiter, Teddy. Weiter. Du kannst wieder leben.
Mehr steckte nicht dahinter? Nachdem er zwei Jahre lang wie gegen die Strömung geschwommen war, seine Pistole am anderen Ende des Wohnzimmertisches angestarrt hatte, während im Dunkeln Tommy Dorsey und Duke Ellington spielten, nachdem er zwei Jahre lang überzeugt gewesen war, keinen einzigen Schritt mehr in dieses Drecksloch von Leben zu machen, nachdem er sie so vermisst hatte, dass er aus Sehnsucht nach ihr mit den Zähnen geknirscht hatte, bis die Spitze eines Schneidezahns abgebrochen war – konnte nach alldem gerade dies nun der Augenblick sein, in dem er sie ad acta legte?
Ich habe dich nicht erträumt, Dolores. Das weiß ich genau. Aber im Moment fühlt es sich so an.
Und das soll es auch, Teddy. Das ist richtig. Lass mich gehen.
Ja?
Ja, mein Schatz.
Ich versuch’s. In Ordnung?
Gut.
Vor Teddy flackerte das orangefarbene Licht. Er spürte die Hitze, ganz schwach, aber unverkennbar. Er griff in den Höhleneingang, das Licht fiel ihm auf die
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