Sibirisches Roulette
noch immer weit aufgerissenen Augen und wußte jetzt, daß sie es gewesen war, und sagte doch immer wieder zwischen den Küssen: »Nein, das warst nicht du … du warst es nicht … du kannst nicht schießen …«
»Ich habe es gelernt.« Sie sagte es so starr, wie ihr Gesicht bewegt war.
»Begreifst du, was du getan hast?« stotterte Jugorow.
»Ich habe dich gerettet. Weiter weiß ich nichts …« Sie drückte ihr Gesicht an seine Brust, und nun fiel alles in ihr zusammen. Alle Kraft verließ sie, aller Mut, alle Starrheit fiel von ihr ab, alles Entsetzen. Er umfaßte sie, damit sie nicht zur Erde rutschte, und sie begann zu schreien, dumpf, den Mund an seine Brust gepreßt. »Du lebst! Igor, du lebst!«
Er preßte sie an sich, hob sie dann hoch und trug sie auf seinen Armen ins Haus.
In der düsteren Stube saß Soja am großen gemauerten Herd, das kurze Kleidchen weit oben um ihre Schenkel, die Unterlippe vorgewölbt. Verächtlich sah sie Jugorow an.
»Wie eine Scharfschützin, deine Walja«, sagte sie. »Reißt das Gewehr hoch und trifft sofort. Auch das kann sie besser als ich. Für mich warst du schon tot, als Masuk das Gewehr anlegte. Aber dann hätte ich ihn anschließend erschossen – genau wie du's gebrüllt hast … Ja, Soja kann so was! Wer denkt denn, daß auch ein Engelchen wie Walja zu töten vermag?«
Jugorow setzte Walja auf die Bank, griff nach der Kanne, schüttete Wasser in ein Glas und setzte es Walja an den Mund. Sie trank zwei Schlucke und senkte dann wieder den Kopf.
»Gelernt hab ich's«, sagte sie leise. »Während des Studiums. Bei der Schützengruppe der Universität. Die Beste war ich.«
»Immer war sie die Beste … bei allen Examen, überall … auch bei dir. Mußt ihr bis zum Lebensende dankbar sein … dein Leben ist ja von ihr …«
»Hast du Wodka?« fragte Jugorow. Seine Stimme klang, als habe er sie weggeschrien.
»Soviel du willst. Selbstgebrannten.« Sie ging zu einem Schrank und holte eine große Flasche heraus. »Vor Masuk bist du gerettet worden, aber Vorsicht mit dem Wodka!«
Ein Teufelszeug war's wirklich, trotzdem trank Jugorow zwei Gläser leer und bewunderte den alten Trofimow, der im Sommer eine Flasche, im Winter leichthin zwei Flaschen davon trinken konnte. Doch tat es gut, die innere Spannung löste sich, die Gedanken blieben nicht mehr so schwer hängen an der Erkenntnis: Walja hat einen Menschen getötet.
Walja Borisowna. Schemjakins Tochter. Die Genossin Ärztin. Wer gab ihr jetzt noch die Hand?
»Wohin mit Masuk?« fragte Jugorow nach dem zweiten Glas.
»Ist das eine Frage?« Soja schloß den Wodka wieder weg. Jugorows glasig werdende Augen sagten genug. »In den Sumpf. Dort kann er warten bis zur Auferstehung.«
»Und das Pferd?«
»Wir sagen: Troll dich … und es läuft allein nach Hause. Es kennt den Weg.«
»Alarm wird es in Lebedewka geben. Wo ist Masuk? Das Pferd kam allein zurück!«
»Sicherlich werden sie ihn suchen. Auch hier, bei mir. Nur: In den Sumpf hinein können sie nicht blicken. Masuk ist verschwunden; ein Rätsel wird's bleiben.«
»Bis sie den Sumpf trockenlegen, um den Kanal hindurchzubauen.«
»Dazu bist du …« Sie sah seinen starren, warnenden Blick, verstand ihn, nickte kurz und sprach weiter: »… bist du verdammt. Doch wer denkt an dich? Mich werden sie verfolgen! Sie war's, Soja war's … wird es sofort heißen. Vorhin hast du es selbst geschrien. Warum sollen andere anders denken als du? Aber ich werde weg sein, weg mit Väterchen, wenn er dann noch lebt … vertrieben wie alle anderen wegen des Kanals. Niemand wird mich finden … Und Walja? Walja, wo wirst du dann sein?«
»Wo Igor ist. Von mir aus am Ende der Welt …«
»Dann geben wir Lew Andrejewitsch die letzte Ruhe!«
Quer über den Sattel gelegt, schafften sie den Toten mit dem Pferd in den großen Sumpf, dessen Geheimnisse nur die Trofimows kannten. Eine ziemliche Mühe war's, den schweren Körper hochzustemmen auf den Pferderücken, und als sie ihn dazu umdrehten, sah Jugorow mit Bewunderung Waljas Schuß. Genau ins Herz, und das aus einer blitzschnellen Bewegung heraus.
»Die Beste! Immer war sie die Beste!« sagte Soja wieder. »Ich war es nie … und auch hier wäre ich zu spät gekommen.«
Sie tappten durch den Sumpf, bis Soja, ihnen vorausgehend, stehenblieb. Bis zu den Knien standen sie im faulig riechenden Wasser, das Pferd war unruhig geworden, blähte die Nüstern, hatte den Kopf gehoben und die Augen quollen angstvoll
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