Sibirisches Roulette
hatte die Vorräte gezählt. »Es reicht noch für fünf Tage«, sagte sie.
»Und meine Kranken im Hospital?« Walja, noch immer in die Decke gewickelt, suchte Jugorows Blick. »Jetzt muß uns Lebedewka helfen. Ich spreche morgen mit Korolew.«
»Helfen?« schrie Niktin sofort wieder. »Helfen? Beschlagnahmen werden wir alles. Jeder Bewohner des Mördernestes wird verpflichtet, alle Vorräte abzugeben! Die Kammern haben sie voll … heraus damit, bis zur letzten Gurke, bis zum letzten Trockenfisch!«
»Mit Gewalt provozieren Sie nur Gegengewalt, Niktin«, sagte Jugorow eindringlich. »Genau das, was wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen können.«
»Von da, wo nichts ist, kann auch nichts mehr kommen! Wenn es kein Lebedewka mehr gibt …«
»Für eine Totalvernichtung wird niemand die Erlaubnis geben. Niemand in Moskau, und in Tobolsk schon überhaupt keiner. Wir sollten nicht die Nazis kopieren, die Lidice und Oradour dem Erdboden gleichmachten als Strafe für Partisanenangriffe. Wollen Sie, daß Lebedewka als dritter Ortsname verewigt wird in der Reihe grausamer Schreckenstaten? Und dieses Mal mit sowjetischem Siegel? Was wir jetzt am nötigsten brauchen ist Ruhe!«
»Nein! Wir brauchen die Terroristen, um sie an den nächsten Ast zu hängen!«
»Auch das, Genosse Niktin. Wir bekommen sie.«
»Und wo waren Ihre Hunde, ha?« Niktin erinnerte sich plötzlich daran, daß man versichert hatte, ein neues Attentat sei unmöglich geworden. »Wer hat hier gesagt: Da kommt keiner vorbei?! Wer hat hier großsprecherisch getönt? Doch wohl Sie, Jugorow!«
»Die Hunde sollten erst am Sonntag eingesetzt werden. Sie sind noch nicht so weit abgerichtet, um frei herumzulaufen. Lebewesen sind es, Niktin, keine Maschinen.«
»Und jetzt?« schrie Niktin erbost. »Jetzt brauchen wir sie nicht mehr. Jetzt können sie die Überreste der Magazine auslecken.«
»Genug gibt es noch, was die Saboteure interessieren könnte. Das Kesselhaus, die Elektrozentrale, die Wäscherei, das Konstruktionsbüro … Sie …«
»Ich?« Niktin verfärbte sich und wurde grünlich-weiß. »Wieso ich?«
»Ein Vertreter des Staates sind Sie, der den Kanalbau unterstützt, für ihn redet, für ihn wirbt und sogar wie gerade jetzt, für ihn ganze Dörfer ausrotten will. Grund genug, auch Sie auf die Liste zu setzen.«
Niktin blickte mit flackernden Augen hinüber zu seiner Frau. Sie hockte auf dem Sofa, mit einer verwirrenden Schamlosigkeit in ihrem dünnen französischen Hemdchen, wagte niemanden anzusehen, am wenigsten Jugorow, und hatte sich insoweit beruhigt, daß sie nicht mehr zitterte oder hysterisch schrie. Ein schlimmer Tag war es für sie gewesen: Erst der schreckliche Morgen mit Nasarow, der so glücklich begonnen hatte. Dann der lange Tag des Wartens mit der Angst, ob Jugorow sie verraten würde. Schließlich die Nacht, in der Niktin zu ihr gekrochen kam, um das zu vollenden, was bei Nasarow abrupt unterbrochen worden war. Und sie mußte das liebende Weibchen spielen, Leidenschaft heucheln, einen Orgasmus vortäuschen und das Streicheln seiner Hände und seiner Lippen ertragen, während sie mit geschlossenen Augen an Nasarow dachte. Und nun auch noch die Feuersbrunst und die explodierenden Gasflaschen, der Untergang des halben Lagers und ein tobender, widerlicher Niktin, der nur schrie, um mit dem Schreien seine erbärmliche Angst zu übertönen.
»Willst du zurück nach Tobolsk, mein Täubchen?« fragte Niktin schwer atmend. »Ich bringe dich in Sicherheit. Hier kannst du nicht mehr bleiben, hier ist Krieg! Ich fliege dich morgen nach Tobolsk.«
»Nein!« sagte die Niktina mit erstaunlich fester Stimme. »Nein. Ich bleibe! Du bleibst doch auch? Du fliegst doch wieder nach hier zurück!«
Niktin schluckte heftig und schwieg. Seine geheimsten Gedanken – nämlich, einfach ebenfalls in Tobolsk zu bleiben – waren damit zunichte gemacht worden. Er mußte weiter ein Held sein und seine Hose zubinden.
»Natürlich komme ich zurück«, sagte er dumpf, weil sowohl Jugorow als auch Schemjakin ihn anstarrten. »Wir alle müssen jetzt gegen diese Hunde kämpfen.«
»Welche Hunde?« fragte Jugorow beleidigt.
»Die Hunde von Saboteuren …«
»Bitte, Jossif Wladimirowitsch, beleidigen Sie nicht meine Hunde. Anständiger sind sie als jeder Mensch. Ich habe das, glaube ich, schon einmal gesagt. Ein Hund ist ein edles Geschöpf.«
»Jajaja …« Niktin, durch die dumme Bemerkung von Maja Petrowna seiner Fluchtmöglichkeit beraubt, setzte
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