Sie fielen vom Himmel
tauchte den Zeigefinger in den Kaffee. Er war noch zu heiß. »Und du willst sie nie wiedersehen?«
»Nein. Wozu? Zu einer Aussprache? Vielleicht nach Jahren? Zwei Fremde, die einmal vor soundso viel Monaten – man kann es kaum noch errechnen – zusammen im Bett lagen und zusammen schliefen? Dinge, die man am nächsten Morgen abwaschen kann und die man vergißt, weil die Seele sie nicht mehr aufnahm, diese tote, abgestorbene, wie ein verfaulter Baum zusammenbrechende Seele? Das ist keine Bindung mehr, weder für den einen noch für den anderen! Und die sollen sich wiedersehen, diese Sexualleichen? Wozu?«
Durch die Trümmer des Klosters strich der Nachtwind. Unterhalb der Bergstellung, auf dem Hang bei der Infanterie, bellte ein MG auf. Ein Spähtrupp der Inder war in ein Minenfeld geraten. Für Sekunden erfüllte ein Donnern die Luft, ein Krachen niedergehender Erde, dann das gräßliche Schreien von Verwundeten und ein schrilles »Help! Help!«
Theo Klein zuckte auf. Durch die Klostertrümmer huschte ein Licht. Es flackerte über die Trümmerberge, bewegte sich über den Zentralhof und geisterte hinüber zum Refektorium. Theo Klein stieß Küppers an und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das wandernde Licht. »Du! Sieh dir das an!«
Vom Hang ertönte schaurig das Geschrei der verletzten Gurkha. »Ambulance!« brüllten sie. »Ambulance!«
Küppers sah an der Hand Kleins vorbei in die Trümmer. Da war es wieder, eine kleine Flamme in der Dunkelheit, huschend, flatternd, über die Schuttberge springend.
»Welcher Idiot macht da Licht?!« Theo Klein stellte das Kochgeschirr mit dem Kaffee zur Seite und kroch aus dem Kochbunker heraus. Küppers folgte ihm. Sie standen in der kalten Nacht und sahen hinüber zu der kleinen Flamme.
»Das kann eine Kerze sein!« meinte Küppers. »Wenn das der Chef sieht, bekommt er einen Wutanfall!«
Theo Klein lehnte sich an die Brüstung seines MG-Standes und brüllte in die Nacht. »Rindvieh! Mach das Licht aus! Willst wohl 'ne Salve auf deinen hohlen Kopf haben?! Mach die Kerze aus, Vollidiot!«
Das Licht geisterte weiter. Man hörte, wie Steine unter den Schritten der Gestalt polterten, sie hörten sogar ein Keuchen und plötzlich so etwas wie ein leises Singen. Küppers starrte Klein verwundert an. »Der Kerl singt auch noch!«
»Pst!«
Sie hielten den Atem an. Am Hang war es still geworden. Die Inder schienen weggeschleppt worden zu sein. In diese Stille hinein hörten sie einen feinen, leisen, zittrigen Gesang, so, als wenn eine Greisenstimme einen Kirchenchoral intoniert. Küppers umklammerte den Kolben des MGs.
Theo Klein zog die Schultern hoch. »Wirklich ein Verrückter!« flüsterte er Küppers zu. »Der klettert über die Trümmer und singt heilige Lieder.«
Sie lauschten wieder. Das flackernde Licht der Kerze kam näher … es tanzte fast durch die Dunkelheit … von einer Seite zur anderen, um die Trümmer herum, in den zerstörten Mauern des Refektoriums. Dann sahen sie die Gestalt … eine große, dünne Gestalt in einem langen Gewand. Wie eine riesige Fledermaus wehte sie durch die zerborstenen Säle und rannte, sich immer wieder umdrehend, zur Seite ausweichend, die Kerze hoch in der Hand haltend und die Gegend ableuchtend, auf die beiden zu.
Theo Klein hielt den Arm Küppers umklammert. Seine Augen waren weit vor Entsetzen.
»Ein Mönch!« flüsterte er heiser. »Mensch – ein Priester ist noch hier!«
Mit weit herumschwingenden Armen, als wolle er fliegen, die Kerze mit den dürren Totenfingern umklammernd, rannte Fra Carlomanno Pelagalli, den man angeblich allein an der Via Casilina gesehen hatte, durch die Trümmer Monte Cassinos. Der achtzigjährige Mönch blieb stehen. Seine irren Augen umfaßten die Trümmer. Wieder hob er die Kerze, bückte sich, leuchtete zwischen die Mauern und rannte weiter. Vor den beiden stummen Soldaten blieb er stehen und starrte sie mit einem leblosen Blick an.
»Mia cella?« stammelte er mit kindischer Stimme. Es war fast, als weine er bei jedem Wort. »Dov'è mia cella?!«
Theo Klein kroch in sich zusammen. »Was will er?« flüsterte er heiser Küppers ins Ohr.
»Er sucht seine Zelle. Seine Klosterzelle, in der er wohnte.«
Fra Carlomanno hob die Kerze. Ihr flackernder Schein fiel über die bleichen, stoppelbärtigen Gesichter der beiden Soldaten. Für Sekunden tauchten sie wie Masken aus der Schwärze der Nacht. »Mia cella?!« weinte Fra Carlomanno. »È tardi! Sono stanco. Sono stanco …«
Theo Klein
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