Sie kamen bis Konstantinopel
lähmte. Doch dann war es oft nicht mehr weit bis zum Grauen des nächsten Morgens, bis zu dem Fußtritt, der ihn aus gnädiger Bewusstlosigkeit in erneutes Elend riss.
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Tag um Tag verstrich auf diese Weise und Daud hatte mehr als genug Zeit, über das Los der Schwachen in dieser Welt nachzusinnen. Er war immer klein und zart gewesen, doch als Ziegenhirt brauchte man eher Flinkheit und scharfe Augen denn rohe Kraft. Und auch die Hilfsdienste im Haushalt des Kalifen hatten keine körperliche Stärke erfordert. Dort hatte ihm vielmehr sein unbändiger Wille Anerkennung eingetragen, sich die geschwungenen Schriftzeichen einzuprägen, um den Koran lesen zu können. Ja, er hatte bereits begonnen, das Wort Gottes auswendig zu lernen, als die Ermordung Uthmans alle Hoffnungen zerstört hatte. Mehr als Knechtschaft, Schläge und Demütigungen war bei Ammâr nicht zu erwarten. Er konnte nur immer wieder Allah anflehen und auf seine Gnade hoffen. Zu den Pflichten der Gläubigen gehörten die täglichen fünf Gebete, und kein Tag verging, an dem Daud nicht jedes einzelne mit der innigen Bitte beschloss, Allah möge ihn aus seinem Elend erlösen.
Erst langsam, fast unmerklich wurde ihm klar, dass Allah mit den Standhaften ist, dass er demjenigen hilft, der sich selbst helfen will. Wobei da, wo es an eigener Kraft fehlte und fremde Rettung nicht in Sicht war, nur eines blieb: Die List. So formten Dauds Lippen immer wieder unhörbar die dreißigste Sura, in der es heißt: »Und Listen schmiedeten sie, und Allah schmiedete Listen; und Allah ist der beste der Listenschmiede.« Wenn Listen Allah wohlgefällig waren, so durfte auch Daud sie gebrauchen – gebrauchen gegen die überlegene Kraft dieser Männer. Seine Gelegenheit würde kommen – diese Gewissheit hielt ihn aufrecht, ließ ihn die langen Tage auf dem wiegenden Kamelrücken ebenso überstehen wie die brennende Hitze, die Demütigungen der abendlichen Lager und die trostlose Einsamkeit der Nächte.
Doch eines Tages geschah etwas, das ihn aus seinem hasserfüllten Brüten riss. Sie waren nach Westen abgebogen, und der Weg schlängelte sich nun aus dem Gebirge hinab, als auf einmal der Ruf »Das Meer!« durch die Karawane lief. Sie ritten hinunter in eine mit Palmen bestandene Ebene, hinter der sich eine glitzernde Fläche in der Abendsonne erstreckte. Daud kniff die Augen zusammen und starrte überwältigt nach vorne. Vom Meer hatte er schon gehört, nicht zuletzt an den abendlichen Lagerfeuern der Karawane, doch waren ihm die Erzählungen wie bloße Aufschneidereien erschienen. Da solle es ein unendliches Wasser geben, hatte es geheißen, zum Trinken zu salzig, von Stürmen zu wilden Wellen gepeitscht, über das die Menschen in riesigen Schiffen fuhren, bis sie am Horizont verschwanden. Daud, der nie eine Wasserfläche gesehen hatte, die den Durchmesser eines Brunnens überstieg, war dies alles unglaublich erschienen. Doch jetzt erblickte er es mit eigenen Augen, und mit jedem Schritt, mit dem sich die Karawane dem kleinen Küstenort näherte, bei dem sie ihr Abendlager aufschlagen würden, wuchs in ihm eine unerklärliche Sehnsucht nach dem Meer.
Am Abend, als sie bei den würfelförmigen Häusern von Aqaba lagerten und die Männer sich ums Lagerfeuer versammelt hatten, um sich gegenseitig mit ihren Geschichten zu übertrumpfen, gelang es ihm, sich für einige Augenblicke unbemerkt fortzustehlen, um zum nahen Strand zu laufen. Er schnupperte den unbekannten Geruch des großen Wassers, lauschte dem beruhigenden Plätschern der Wellen, die sich am Ufer brachen, grub seine Zehen in den feuchten Sand und sah den Fischerbooten mit ihren dreieckigen Segeln nach. Im Osten röteten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die kahlen Berggipfel, während er an der Spitze dieser riesigen Wasserzunge stand, die an seinen Füßen leckte und sich in der Ferne allmählich verbreiterte, bis sie im Dunst des Horizonts aufging. Ich bin die Freiheit, schien sie ihm zuzuflüstern, auf mir gibt es keine Grenzen – und Daud wurde schlagartig klar, was er mehr als anderes auf der Welt ersehnte: Auf dem Meer sein, auf einem Schiff seine Weiten zu durchqueren, aufbrechen zu unbekannten Ländern, zu neuen Eroberungen, zu Ruhm, Macht und Ehre …
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Die folgenden Tage fiel ihm trotz aller Schinderei das Reiten leichter, denn immer wieder schweiften seine Gedanken zum Meer und ließen ihn seine Lage wenigstens zeitweise vergessen. Angespornt von neuem Ehrgeiz vertrieb er sich
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