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'Sie können aber gut Deutsch'

'Sie können aber gut Deutsch'

Titel: 'Sie können aber gut Deutsch' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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wie Kinder vermeintliche Tatsachen von sich geben, die sie für sich nicht in Frage stellen: Das Christkind bringt die Geschenke. Die Zahnfee hat meinen Zahn geholt. Meine Mama ist die beste Mama der Welt. Ich kann nicht schreiben. Ich bin doch nur Ausländerin.
    Das Mädchen, das diesen Satz sagte, der bis heute in meinem Kopf herumschwirrt, sprach ihn tatsächlich in der Schule aus. Wir standen dort zusammen, weil sie ihre Bildung in dieser Einrichtung verpasst bekam, die Art von Bildung, die für die deutsche Hauptschule nun einmal vorgesehen ist, und ich eine Ergänzung dieser Bildung war. Ich war zusammen mit anderen Autoren eingeladen worden von einem Verein, der sich der Aufgabe widmete, Migrantenkindern durch kreative Schreibkurse und Begegnungen mit »echten Schriftstellern« die deutsche Sprache näherzubringen. Diese Art von Projekten, Schreib- oder Lese- oder Lese-Schreib-Tage, findet immer wieder, hoffentlich auch zunehmend, statt. Wie sie jeweils heißen, ist nicht von Bedeutung, von Bedeutung ist, dass es sie gibt. Große und mittelgroße Autoren, »echte Schriftsteller« treffen kleine Autoren, sie erleben und schaffen gemeinsam Literatur, und im besten Falle treten die großen Autoren in den kleinen Köpfen etwas los, auf jeden Fall aber lernen alle Beteiligten dazu. Das Mädchen hatte im Vorfeld einen Text geschrieben so wie auch die anderen Schüler, die an dieser Schreib-Lese-Woche teilnahmen. Die meisten Texte, die ich zu lesen bekam, waren Gedichte, vor Bedeutung triefende Gedichte, in denen es meistens um Liebe ging, die einzig wahre, die, der das gebrochene Herz folgte, ICH LIEBE DICH in Großbuchstaben kam in jedem dritten solchen Gedicht vor, und DU oder ER wollte meist nicht verstehen oder sehen, was er der jeweiligen Lyrikerin bzw. ihrem erzählerischen Ich antat. In
der zweithäufigsten Kategorie drehte es sich um den Keinerkann-mich-verstehen-wie-ich-wirklich-bin-Topos, einen Topos der Pubertät, der sich lyrisch in Zeilen wie »Und ich bin allein in der schwarzen Masse« äußerte. Ich liebte all diese Gedichte, da sie mich an meine eigenen Poesieversuche in diesem Alter erinnerten, an DEN, der mich nicht sah, und an das Gefühl, keiner wisse, wie ich wirklich war. Ich schmunzelte viel, als ich die Texte zur Vorbereitung der Woche las. Bei einem aber schmunzelte ich nicht. Es war der Text dieses Mädchens, mit dem ich später im Schulflur sprach, eine karierte Schreibblockseite mit krakeliger Füllfederhandschrift gefüllt, er handelte vom Tod. Wer gestorben war, ging aus dem Text nicht hervor, ich dachte, es könnte vielleicht die Mutter sein, der Text klagte nicht, er stellte keine Fragen, er war frei von verbrauchten Assoziationen wie Leere und Dunkelheit und Warum und Einsamkeit und Danach. Mir liefen beim Lesen Schauer über den Rücken, und ich machte das Fenster zu. Es war nicht kälter geworden.
    Am nächsten Tag fragte ich den Klassenlehrer in der Pause diskret, wer die Verfasserin dieses Textes sei. Er rief das Mädchen beim Namen, an den ich mich heute nicht mehr erinnern kann, sie löste sich aus der Gruppe ihrer Freunde und stellte sich zu uns, und nachdem ich kurz gesagt hatte, dass ich den Text beeindruckend fand, meldete sich auch ihr Klassen- und Deutschlehrer zu Wort, der ja schließlich für ihre Bildung zuständig war, auch er wollte Feedback geben. Sein Feedback bestand in der Aufzählung mehrerer Rechtschreib-, Grammatik- und Zeichensetzungsregeln und dem ausführlichen Hinweis darauf, dass man, um schreiben zu können, erst einmal die deutsche Schriftsprache perfekt beherrschen müsse, wovon sie, die junge Autorin, der dieser Titel mit dieser Predigt mit einer Bestimmtheit aberkannt wurde, die mich schockierte,
noch ziemlich weit entfernt sei. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut seines Vortrags, umso genauer aber an den der Antwort des Mädchens, die sie mir entgegenwarf, als ich ihr, nachdem der Lehrer enteilt war, um andere Kinder wegen irgendetwas zu ermahnen, noch einmal sagte, dass das Wichtigste doch sei, dass sie überhaupt schrieb. Dass ich fände, dass sie Talent habe und weiter schreiben sollte, wenn auch nur für sich. Ihre Antwort lautete: »Ich kann nicht schreiben, ich bin doch nur Ausländerin.«
    So einfach vernichtet man kleine Autoren.
    Ich habe viele solcher Schreibwerkstätten mitgemacht, in vielen Schulen aus meinen Romanen vorgelesen. Ich habe Lehrer erlebt, die ihre Schüler schon im Vorfeld niedermachten (»Sie wissen ja,

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