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'Sie können aber gut Deutsch'

'Sie können aber gut Deutsch'

Titel: 'Sie können aber gut Deutsch' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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mit 75 Jahren hierherkam, zu alt, um hier noch zu arbeiten? Sie ging gerne und viel spazieren und lernte bei ihren Spaziergängen im Wäldchen nebenan andere ältere Leute kennen, mit denen sie sich teils auf Jiddisch, teils mit Händen und Füßen, teils durch ein freundliches Lächeln unterhielt. Reicht das nicht, muss sie Goethe im Original lesen können? Sie hat ihn auf Russisch gelesen, sie hat Faust gelesen, was schon mehr
ist, als viele Ursprungsdeutsche von sich sagen können. Meine Eltern hingegen, die im Alter von 52 und 46 Jahren den Schritt der Auswanderung gewagt haben, und wagen ist hier wirklich der richtige Begriff, haben hier nicht nur seit ihrer Ankunft gearbeitet, also Steuern bezahlt, sondern immerhin so viel Deutsch gelernt, dass sie sich auch in einem deutschen Freundeskreis bewegen, eine seriöse deutsche Tageszeitung abonnieren und möglicherweise zu den größten Patrioten gehören, die dieses Land je haben wird. Ich bin in den letzten Jahren nicht mehr viel mit meinen Eltern unterwegs gewesen, aber fast jedes Mal, wenn ich es war, konnte ich, wenn sie auf andere Menschen trafen – Kellner, Verkäufer, Sitznachbarn im Zug, wen man im Alltag eben so an Fremden trifft –, etwas spüren, was mir nicht behagte, was zu benennen mir schwerfällt. Es ist nie etwas vorgefallen, etwas, das man als eine ausländerfeindliche Handlung bezeichnen könnte. Es ist einfach die Art, der Tonfall, in dem zum Beispiel die Schuhverkäuferin reagiert, wenn meine Mutter sie um eine andere Größe bittet. Es steckt zwischen den Zeilen, es lässt sich nicht beschreiben, schon gar nicht festhalten, aber es tut weh. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Hätte ich in meinem akzentfreien Deutsch nach einer anderen Schuhgröße gefragt, wäre ich freundlicher, zuvorkommender, respektvoller behandelt worden; das ist das Gefühl, das bleibt. Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, um mal eine abgegriffene Metapher zu verwenden, in mir den Wunsch weckt, nach dem Schuhkauf im Café den Kaffee für alle bestellen zu wollen, weil ich akzentfrei Deutsch spreche, weil ich damit so gut kaschieren kann, wer ich eigentlich bin. Das ist ein Wunsch, auf den ich nicht stolz bin, den ich aber immer wieder verspüre, wenn ich meine, von Menschen, die mich nicht kennen, als Ausländerin abgestempelt zu werden. Oder warum lasse ich Die Zeit auf dem Tischchen im Zug
liegen, wenn ich ein russisches Buch zum Lesen hervorhole? Warum habe ich Angst, dass mein Sitznachbar, mit dem ich kein Wort geredet habe und nie ein Wort reden werde, vielleicht außer »Darf ich mal vorbei?«, denken könnte: Oh, komische Buchstaben, was für eine Ausländerin sitzt denn da neben mir? Mag sein, dass das alles nur in meinem Kopf stattfindet, der Sitznachbar mich noch nicht einmal wahrgenommen hat, aber was da in meinem Kopf stattfindet, kommt nicht von ungefähr, sondern vom Nachgeschmack. Der Nachgeschmack bleibt noch länger wohl bei meinen Eltern, nicht nur bei ihnen, sondern bei Tausenden jener, die sich nach ihrer Einwanderung in dieses Land – nach den ihnen eigenen Möglichkeiten – so viel Mühe gegeben haben, das neue Zuhause, die Bräuche zu begreifen, die Sprache zu lernen. So gut es ihnen eben gelang. Der Nachgeschmack bleibt, und mein Vater, der sehr gerne essen geht, tut es manchmal nicht, um nicht auf Deutsch bestellen zu müssen, und meine Mutter ruft mich regelmäßig an, um mich nach der Aussprache bestimmter Worte zu fragen, die zu benutzen sie gedenkt: »Ich will ein Fondue-Gerät verschenken. Wie spricht man Fondue genau aus?«, und dann übe ich am Telefon mit ihr, ehe sie losgeht und dann doch undeutlich oder eben einfach mit Akzent spricht, und der Ton, in dem die Verkäuferin dann antwortet: »Ich habe Sie nicht verstanden. Was wollen Sie?«, hat nichts mehr mit ihrem anfänglichen, automatisierten und wahrscheinlich deshalb extrafreundlichen »Was kann ich für Sie tun?« zu tun, weil die Herablassung nicht zu überhören ist und wieder einen Nachgeschmack hinterlässt. Und der Nachgeschmack mehrt sich, bis man einmal ausspucken möchte oder den Mund spülen, weil es zu unangenehm wird.
    Wenn man nicht perfekt oder schlecht oder schlechter als jemand anders oder mit Akzent Deutsch spricht, ist man dann
ein schlechterer Mensch? Ein Mensch zweiter Klasse? Manchmal fühlt es sich so an.
    Ich habe eine Weile in Jerusalem gelebt, und als ich dort ankam, reichte mein Hebräisch gerade einmal, um Falafel zu bestellen und mit

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