'Sie können aber gut Deutsch'
wir sind eine Hauptschule hier, die können mit Büchern und Literatur und Schreiben eh nichts anfangen, die können ja noch nicht einmal richtig Deutsch.«). Ich habe aber auch – leider seltener – Lehrer erlebt, die ihre Schüler ermunterten, sich deren Geschichten anhörten, ihnen beim Niederschreiben halfen, kleine Bücher mit ihnen herausgaben. Ich habe sogar eine Lehrerin erlebt, die zu mir sagte: »Ich habe viel, auch sprachlich, von meinen Schülern gelernt.« Ein Satz, der überraschend klang, weil ich spontan dachte, dass er in dem hiesigen Bildungssystem nicht vorgesehen ist.
Ich selbst habe gelernt, dass aus an der einen oder anderen Stelle fehlenden oder aus Duden-Sicht falschen DeutschKenntnissen wunderschöne Sprachbilder entstehen können. Dass Texte auf Deutsch häufig berührender sind, wenn sie mithilfe anderer Sprachen geschrieben wurden. Dass sich beispielsweise ein Apfel besser beschreiben lässt, wenn man kurz die Augen schließt, das Wort »Apfel« in eine andere – vielleicht die Muttersprache – übersetzt, laut ausspricht und merkt, dass ein ganz anderer Apfel vor dem inneren Auge
auftaucht als der, den man normalerweise in der Obstauslage eines deutschen Supermarkts sieht. In meinem Fall sehe und beschreibe ich dann kleine, weiße, beim Reinbeißen saftigtriefende Äpfel, die direkt unter einem Apfelbaum liegen, wie ich sie noch von unserer Datscha in Russland in Erinnerung habe. Ich habe gelernt, dass aus anderen Sprachen übersetzte Metaphern und Bilder, die auf Deutsch erst einmal holprig oder sogar falsch klingen, Texte interessanter machen. Dass Denkweisen, die sich von unseren, im Laufe der Jahre angeglichenen unterscheiden, zu neuen stilistischen Mitteln führen. Wenn zum Beispiel ein Junge schreibt: »Am Dienstag war ich Schlittschuhlaufen, und dann hatte ich einen Pickel, dann war ich vierzehn und dann in der Pubertät«, und der Saal bei der Abschlusslesung einer solchen Schreibwerkstatt lachen muss. Die Aufzählung war, wie wir im Gespräch herausfanden, nicht als kunstvolles, literarisches Stilmittel gemeint gewesen, sondern aufgrund fehlender Aufzählungswörter-Alternativen so entstanden, vielleicht auch, weil in einem Jungenkopf von zwölf Jahren Prozesse so ablaufen: Und dann und dann und dann, bis man in der Pubertät ist. Man kann anschließend darüber sprechen, was nun – unbeabsichtigterweise – entstanden ist, vielleicht lernt der Junge dann (ja, dann!) ein bisschen mehr, zwischen den Zeilen zu lesen, vielleicht sogar das eine oder andere Synonym zu »dann« zu verwenden. Und ich lerne ganz gewiss, wie Denkprozesse und Sätze und Stilmittel auch funktionieren können, und fühle mich, als hätte ich eine Konsultation bei einem »echten Schriftsteller« gehabt.
Und dann, um diesen »echten Schriftsteller« zu zitieren, kann es einem passieren, dass man in einem Vortrag zum Thema »Kreatives Schreiben mit Schülern mit Migrationshintergrund« sitzt und sich innerlich bereits über den Titel des
Themas aufregt, denn kreatives Schreiben ist kreatives Schreiben, egal mit wem, das sage ich als »echte Schriftstellerin« jetzt mal so, und sich dann noch Folgendes anhören muss: Dass es besser ist, solchen Schülern, also denen mit diesem großen Makel, diesem unsäglichen Migrationshintergrund, vorgefertigte Gedichtzeilen aus grammatikalisch korrekten deutschen Sätzen vorzulegen, die sie jeweils ein wenig ergänzen können, indem sie hier mal ein Adjektiv hinzufügen, dort mal ein Akkusativ-Objekt (und wie viele von uns wissen noch, was genau ein Akkusativ-Objekt ist?) … So lernen die Kinder trotz ihres Migrationshintergrundes vielleicht endlich richtiges Deutsch. Vielleicht tun sie das, kreativ sein, schreiben lernen sie so aber mit Sicherheit nicht.
Und warum das alles, warum diese Geschichten? Weil es immer wieder schockierend ist zu beobachten, was für Erwartungen in diesem Land beim Thema Sprachkenntnisse herrschen. Erst einmal vorweg: Ja, auch ich finde, wer in diesem Land lebt, wer zu diesem Land gehört, wer zu diesem Land (wirtschaftlich) beiträgt, wer Teil des Landes ist, muss die deutsche Sprache können. Nicht beherrschen, sondern können. Die Definition von »können« variiert, sie darf, sie muss auch variieren, weil wir unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Fähigkeiten, Lebensläufen, Lernmöglichkeiten, auch Ansprüchen sind. Und das ist im Übrigen gut so. Wie viel Deutsch muss meine Großmutter können, die
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