'Sie können aber gut Deutsch'
Taxifahrern über den Fahrpreis zu verhandeln. Später begann ich einen Sprachkurs, den ich nicht beendete, ich schnappte wichtige Wortfetzen bei meinen Mitbewohnern auf, ich redete auf die Taxifahrer ein, ich versuchte, die Boulevardzeitung zu lesen, und übte meine Pantomimefähigkeiten, wenn mir Begriffe fehlten. (Ich sprach und verstand definitiv um einiges schlechter Hebräisch als meine Eltern Deutsch.) Und permanent wurde ich für meine Sprachkenntnisse gelobt. In diesem Lob steckte keine Überraschung darüber, keine Herablassung, die Israelis stellten es vielmehr fest. Wie gut ich mich ausdrücken würde, wie schnell ich die Sprache gelernt hätte (gelernt, als abgeschlossene Handlung bereits, obwohl ich in jedem meiner Sätze mindestens einen Fehler machte und nur im Präsens sprach, weil mir die anderen Zeitformen fehlten), bewunderten mich die Menschen, denen ich begegnete, weil die Israelis was? verlogener, unehrlicher sind? Wenn jemand in den USA davon spricht, dass jemand Englisch kann, ist damit immer das hochgestochene Englisch eines Professors der englischen Literatur aus Harvard gemeint?
Deutsch können sollen die Zuwanderer, wird immer wieder gefordert, dieser Forderung schließe ich mich an, aber wo beginnt Deutsch können?
Wann haben Sie zuletzt eine Sprache gelernt? Oder konkreter formuliert: Wann haben Sie zuletzt eine Sprache gelernt, während Sie gleichzeitig versuchten, sich in einem Ihnen komplett fremden Land zurechtzufinden, Ihre Familie zu ernähren, Ihren Kindern trotz des permanenten eigenen
Unsicherheitsgefühls Selbstsicherheit und Stabilität zu vermitteln? Wir, all diejenigen, die seit ihrer Schulzeit keine neue Sprache mehr ge-, geschweige denn erlernt haben, vergessen beizeiten, wie schwer das ist. Erst recht, wenn man schon älter ist oder gerade dabei, sich ein komplett neues Leben aufbauen zu müssen. Das Erlernen einer neuen Sprache ist ein immerwährender Prozess, der möglicherweise nie aufhört, selbst für Muttersprachler nicht, da man den Wortschatz immer wieder erweitert. Ich zum Beispiel habe vor ein paar Wochen das Wort »Stollen« gelernt, nicht im Zusammenhang mit Weihnachten, sondern im Zusammenhang mit Schuhen, Fußballschuhen. Ich lernte es während eines Spiels mit Freunden, bei dem man die zu erratenden Begriffe zeichnen musste, und ich bekam »Schuhstollen« als Begriff und wusste nicht weiter, was den Sohn unserer Freunde schockierte und mich in seinen Augen wahrscheinlich herabsetzte. Ich bin ein Mädchen, ich spiele nicht Fußball, meine Söhne sind zu klein, um Fußballschuhe haben zu wollen, der Begriff und ich, wir sind uns bisher nicht über den Weg gelaufen, ich hätte bis zu diesem Zeitpunkt die Stollen als »die Dinger an den Fußballschuhen« bezeichnet, wäre das ein Problem gewesen? Oder nicht, weil ich »die Dinger an den Fußballschuhen« akzentfrei aussprechen kann? Wo beginnt Deutsch können? Soll ich mir wieder Vokabelkärtchen schreiben, wie damals in der Schule im Lateinunterricht? Werden mir meine Autorenpreise nun aberkannt? Ich merkte mir »Schuhstollen«, speicherte das Wort im Kopf bewusst ab, so wie ich das in meiner Anfangszeit in Deutschland täglich mehrmals getan habe. Mein zweiter deutscher Satz hieß: »Ich möchte mit deutschen Kindern Freundschaft halten.« Den Satz hatte ich direkt aus dem Russischen mithilfe eines sowjetischen Wörterbuchs übersetzt. Ich war wild entschlossen, Deutsch zu lernen und deutsche Freunde zu
finden. Solchermaßen sprachlich ausgerüstet, machte ich mich auf den Weg zum nächstgelegenen Spielplatz. »Ich möchte mit deutschen Kindern Freundschaft halten. Ich spreche Deutsch, aber nicht sehr gut«, erklärte ich den Kindern, die schaukelten und auf Klettergerüsten herumturnten. Sie zeigten keinerlei Interesse an mir, und in meiner Verunsicherung zog ich mich zurück auf die Wiese, auf der mein Bruder mit ein paar neuen russischsprachigen Bekannten sprach. Was ich hier machen würde, wollten sie wissen, ich war jünger und hatte dort nichts zu suchen. Ich wolle mich mit deutschen Kindern anfreunden, erklärte ich und zeigte auf den Spielplatz. »Das sind doch Türken, gar keine Deutschen!«, lachte mich einer von ihnen aus.
Eine Sprache zu lernen ist ein Prozess, der seine Zeit braucht, das ist nun einmal so. Ich las die Verpackungen von Lebensmitteln und fand langsam heraus, dass Spaghetti, Tortellini, Fusili und Rigatoni Nudeln sind. Ich achtete darauf, wann genau die Menschen »ade« sagten,
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