"Sie koennen aber gut Deutsch!"
Diese â aus meiner persönlichen Sicht unmenschliche â Denkweise, den Wert eines Menschen aus einem anderen Land ausschlieÃlich an seinem Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes (oder eben nicht als solchen) zu messen, ist dennoch eine, die die Vielfalt, die ebendiese Menschen mit sich bringen, zumindest akzeptiert, wenn auch erst einmal aus sehr bestimmten, vernunft- und gewinngeleiteten Gründen. Sie wurde inzwischen selbst von der CDU, die der Zuwanderung als Ganzes jahrzehntelang skeptisch gegenüberstand, übernommen, insofern, als sie Einwanderungserleichterungen für Fachkräfte bestimmter Berufsspektren fordert.
Da, wo ich von einer Gesellschaft der Vielfalt, der Diversität spreche, sprechen manche von einer Gesellschaft der Toleranz und denken, wir meinten dasselbe. Ich aber möchte nicht toleriert werden. Toleranz bedeutet Duldsamkeit, Toleranz bedeutet Aushalten, Geltenlassen, irgendwie, obwohl, dennoch. Werde ich toleriert, wird hingenommen, eben ausgehalten, geduldet, dass ich da bin oder dass ich so bin, wie ich bin. Toleranz bedeutet noch nicht einmal Akzeptanz, Toleranz ist eine Haltung, die immer von oben herab kommt und einen in die Knie zwingt, erniedrigt: Ach schau mal, bin ich nicht nett, dass ich dich hier so, wie du bist, toleriere? Toleranz hat wenig mit Gleichberechtigung zu tun, auch wenig mit einem Miteinander. Toleranz baut Hierarchien auf, die aufzubrechen nicht möglich ist, weil von vornherein festgelegt ist, wer seinen Platz wo hat.
Ich erinnere mich gleichermaÃen gut wie ungern an Toleranz. Als Kind wurde ich viel toleriert, toleriert, weil ich anders
war. Es wurde geduldet, dass ich angesichts von Pudding nicht in Begeisterungsstürme ausbrach, vielmehr fand, diese Speise sei nicht nur eine wackelige, sondern aufgrund dieser wackeligen Konsistenz eben auch eine sonderbare Angelegenheit, die ich nicht essen mochte. Das einzige Kind, das nicht in Begeisterungsstürme ausbrach, wenn es Pudding gab, obwohl ich ihn selbstverständlich aÃ, wie es mir beigebracht worden war, mich dafür bedankte und alles dafür tat, dass man mir meine Skepsis nicht anmerkte. Es wurde toleriert, dass meine Kleider, meine Schulsachen anders aussahen als die meiner Mitschüler, es wurde netterweise sogar toleriert, dass ich manchmal Hefte mit in die Schule brachte, die nicht nach DIN normiert, sondern quadratisch waren, der Umschlag ein verblichenes Grün. So hatten alle Schulhefte in der Sowjetunion ausgesehen, wo es kein DIN gab (und ja, wir lebten ganz gut damit), und meine Eltern hatten viele dieser leeren Hefte mitgebracht, weil Gerüchte, die unter Auswanderwilligen in der Sowjetunion in Umlauf waren, besagten, dass Schulhefte in Deutschland teuer seien. Waren sie aus unserer Arbeitslosen-Neuankömmlinge-Sicht ja auch, weshalb ich also die russischen Hefte mit in die Schule nahm, die dort toleriert wurden.
Ebenso wie meine Frisur, die mein Mann später anhand der Fotos aus dieser Zeit als »Turmfrisur« betitelte â eine Frisur, die die meisten russischen Mädchen meines Alters trugen, an den Seiten kurz und oben lang, weshalb meine vielen Locken meinen Kopf nicht nur unmodisch, sondern auch unvorteilhaft nach oben hin verlängerten, ein wenig wie bei Marge Simpson, und die mir eine ukrainische Friseurin in der Küche unseres Asylbewerberwohnheims, die wir sowie fünfzehn weitere Familien miteinander teilten, regelmäÃig verpasste, während meine Mutter und andere Mütter russische Pausenbrote für uns schmierten, die nun ja, das wusste ich
damals, während ich den Müttern zusah und zuhörte, toleriert werden würden.
Vor lauter Toleranz hatte ich, die damals Elfjährige, nur einen Wunsch: nicht mehr toleriert werden zu müssen. Weshalb mein einziges Bestreben der kommenden Jahre darin bestehen sollte, all das abzulegen, was toleriert werden könnte, und so zu werden wie die anderen. Nicht mehr aufzufallen, in der deutsch-blonden Masse zu verschwinden. In meiner ehrlichen kindlichen Sprache von damals formuliert: deutsch zu werden. Ich färbte mir die Haare blond, ich schmierte mir meine Pausenbrote bald selbst, schnitt sie so zurecht, dass sie perfekt in die Vesperdosen passten und somit nicht anders aussahen als die meiner Mitschüler. Sah möglichst davon ab, Freunde aus der Schule nachhause einzuladen, ein Zuhause, das erst das Asylbewerberwohnheim war und sich später,
Weitere Kostenlose Bücher