Sie nennen es Leben
Szene. Sie waren am Anfang fast ausschlieÃlich über Peer-to-Peer-Tauschbörsen im Internet wie etwa Jpopsuki zu bekommen. Diese Netzwerke sorgten auch dafür, dass Ãbersetzungen für alle verfügbar wurden und man nicht mehr darauf warten musste, bis ein Verlag oder Fernsehsender die Rechte kaufte.
Für Animes funktioniert das bis heute zum Beispiel so, dass japanische User digitale Aufnahmen der neuesten Folgen aus dem Fernsehen machen und diese dann in den Netzwerken hochladen. User im Westen laden sie anschlieÃend herunter und machen sich an die schnellstmögliche Ãbersetzung, auch » fansubbing « ( » sub « vom englischen » subtitles « für Untertitel) genannt. Mit Untertiteln versehen, werden die Episoden dann wieder hochgeladen und dem gesamten Netzwerk zur Verfügung gestellt.
Ãber Foren und Tauschbörsen breitete sich so die Begeisterung für japanische Popkultur ausâ und etablierte sich, ohne von der deutschen Musikindustrie, aber auch den klassischen Medien wahrgenommen zu werden. Groà war deshalb die Ãberraschung, als die Osaker Band Dir En Grey am 28 .Mai 2005 ihr erstes Deutschlandkonzert gab. Ohne nennenswerte Berichterstattung in den deutschen Medien hatte sich die Band eine leidenschaftliche Fangemeinde aufgebaut: Innerhalb von drei Tagen waren die rund 3500 Tickets für die Berliner Columbiahalle ausverkauft. Völlig überrascht nahmen die Berliner Zeitungen von dem neuen Phänomen Kenntnis.
Auch Wendy war auf dem mittlerweile legendären Konzert. » Die Medien haben aber übertrieben « , sagt sie. » Die Fans haben nicht fünf Tage vor der Halle übernachtetâ das waren höchstens ein oder zwei Tage. « Von der Begeisterung der Fans war aber auch sie beeindruckt. » Als der Sänger ein verschwitztes Handtuch ins Publikum geworfen hat, haben die das mit den Zähnen zerrissen. «
Das Musiklabel Universal legte im Sommer 2005 schlieÃlich mit Tokio Hotel nach, einer Band, die sich offensichtlich an J-Rock orientierte. Vor allem Sänger Bill mit seinen schwarz umrandeten Augen und dem steil toupierten Pony schien sich in der » Gothic & Lolita Bible « informiert zu haben. Von Visual-Kei-Fans wurden Tokio Hotel trotzdem sofort abgelehnt: zu sehr Industrieprodukt, zu wenig Japan.
2005 , fünf Jahre nach den ersten J-Rock-Foren im Internet, erschienen schlieÃlich auch die ersten Zeitungsartikel zu VK. Seitdem hat es immer wieder Berichte über den Boom von Manga und Cosplay, dem aufwendigen Kostümieren nach dem Vorbild von Manga- oder Anime-Charakteren gegeben. Vom medialen Durchbruch ist die Szene aber weiterhin entfernt.
»Eine de-territorialisierte Medienkultur«
» Visual Kei ist ein nahezu rein internetbasiertes, globalisiertes Exportprodukt « , schreibt Marco Höhn. Der Bremer Soziologe gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich mit dem Phänomen beschäftigen. Dass sich mit Visual Kei zum ersten Mal eine asiatische Jugendkultur in Deutschland etablieren konnte, hält er für eine direkte Folge der Verbreitung des Internet: Erst die Mediatisierung habe es möglich gemacht, dass sich Visual Kei auch im Westen verbreiten konnte.
Wäre Visual Kei stärker an die Lebensumstände von japanischen Jugendlichen gebunden, vermutet Höhn, könnten deutsche Jugendliche wahrscheinlich sehr viel weniger damit anfangen. Tatsächlich erscheint VK auf den ersten Blick als unverbindliche Stilgemeinde. Politisch bietet die Szene keine Anknüpfungspunkte. Am ehesten kann man die exaltierten Outfits der VK-Bands noch als Rebellion gegen den zum Teil stark traditionell geprägten Alltag in Japan verstehen. Auf viele Kritiker wirkt Visual Kei deshalb inhaltsleer und oberflächlichâ eine selbstverliebte Mode ohne gröÃere Bedeutung.
Doch in seiner fehlenden Rückbindung an eine bestimmte Schicht oder Bewegung stellt Visual Kei keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel dar. Denn spätestens seit Techno gilt: Subkulturen sind nicht mehr an eine spezielle gesellschaftliche Gruppe gebunden. Das war in den 60 er Jahren durchaus noch anders. In GroÃbritannien waren Mods und Teds zum Beispiel klar der Arbeiterklasse zuzuordnen. Aber schon zehn Jahre später bei Punk wurde es schwieriger: als Rocker-Jacken mit Arbeiterstiefeln und Make-up mit Ratten kombiniert wurden, waren genauso Arbeitslose wie auch Kunststudenten am Werk. Für
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