Sie sehen aber gar nicht gut aus!
ziehen und nach Horst suchen zu wollen. Lenny und ich verabschiedeten uns also von ihm und versprachen ihm noch, auf unserer Rückfahrt die Augen offen zu halten.
Auf der Hauptstraße angekommen, sahen wir eine Bushaltestelle. Lenny verringerte die Geschwindigkeit, und wir ließen unsere Blicke über die Bushaltestelle schweifen. Im Bushäuschen stand tatsächlich jemand, auf dessen Statur die Beschreibung von Horst perfekt passte.
»Ich glaub, mein Horst pfeift ...«, meinte Lenny.
»Halt ja nicht an! Nicht anhalten, sonst fällt dem noch ein, doch ins Krankenhaus zu wollen«, sagte ich zu Lenny, besorgt um das Wohl meiner armen Nase.
Horst stand da, wie der Trinker ihn beschrieben hatte. In seinem knielangen grauen Mantel verbarg er vermutlich allerlei Köstlichkeiten. Seine Augen waren zu dünnen Schlitzen zusammengekniffen. Als er seinen Kopf etwas anhob, traf sein alkoholgetrübter Blick den meinen. Er wirkte so, als würde ihn irgendetwas blenden.
Beim Näherkommen sah ich braune, verschmierte Streifen an Horst. Im Gesicht an der Wange, am Mantel und an Horsts ehemals weißem Hemdkragen. Man hätte meinen können, Horst hätte eine Nutella-Orgie gefeiert und vergessen, sich danach zu waschen. Offenbar wartete Horst auf den Bus, der ihn zurück in sein Dorf bringen sollte. Er bedurfte keinerlei Rettung durch uns, da er sich bester Gesundheit erfreute. Lediglich seine Fähigkeit, rechtzeitig eine Toilette aufzusuchen, hatte an diesem Abend wohl etwas gelitten.
»Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist erst Viertel nach drei«, bemerkte Lenny.
»Der wartet bestimmt noch eine Weile auf den nächsten Bus«, stimmte ich zu. »Da hat er noch Zeit, wieder nüchtern zu werden.«
Also drückte Lenny auf die Tube und fuhr davon.
Die nächste Zeit konnte ich auf jeden Fall kein Nutella mehr zum Frühstück essen.
Schicksalsnacht
Feuerwehr und Polizei waren bereits vor Ort und berieten das weitere Vorgehen vor der Haustür. »Gefahr im Verzug« war für uns angesagt. Ich stellte den Notfallrucksack ab, nahm Anlauf und ließ mein ganzes Gewicht gegen die Haustür fallen. Noch mal. Und noch mal. Ein Bersten und Brechen, dann hatten Lenny und ich freien Zutritt zur Wohnung, deren edler weißer Türrahmen anschließend neu verschalt werden musste. Ein schmaler Gang führte in das großzügige Wohnzimmer dieser Galeriewohnung im zweiten Stock eines Mietshauses. Eine steile Wendeltreppe verband zwei Ebenen miteinander. Warmes Licht, das von einem Schienenleuchtsystem ausging, flutete die obere Ebene und machte die ganze Tragik des Einsatzes sichtbar. Von »Gefahr im Verzug« konnte keine Rede sein.
Ein Tag zuvor. Die Freundin, die den Notruf abgesetzt hatte, hatte an diesem Tag mit Frau Roth telefoniert, der stolzen Besitzerin eines florierenden Kleiderladens mitten in der Altstadt.
»Du hörst dich an, als hätte man dir die Luft aus den Reifen gelassen. Soll ich vorbeikommen?« Ein kläglicher Versuch, Frau Roth aufzuheitern.
»Nein, nein, alles in Butter. Es geht schon – irgendwie! Du weißt ja, was mich nicht umbringt, macht mich hart wie Stahl.« Die Antwort hatte die Freundin beunruhigt, denn Frau Roth klang ernst und bitter.
Es war Anfang Januar gewesen, als Frau Roth ihren Ehemann durch ein Unglück verloren hatte. Auf dem Heimweg war er auf glatter Fahrbahn mit dem Auto ins Schleudern geraten und mit hoher Geschwindigkeit frontal gegen einen Baum geprallt. Frau Roth hatte sich dafür entschieden, ihn so in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn am Morgen dieses Unglückstages verabschiedet hatte. Ohne ihn noch einmal zu sehen.
»Ich bin dann weg. Bis heute Abend, ich freu mich!«, hatte er noch gesagt und war zur Arbeit verschwunden, in seinen letzten eiskalten Wintermorgen hinein.
Seitdem ging es abwärts mit Frau Roth. Sie litt zunehmend an paranoiden Zwangsgedanken und Depressionen. Die Arbeit in ihrem Kleiderladen hielt sie über Wasser, aber die einsamen Abende zogen einen unüberwindbaren Graben aus Angst, Isolation und Erschöpfung zwischen dem Leben um sie herum und der Insel, auf der sie sich befand.
Am Tag nach dem Telefonat war der Kleiderladen geschlossen. Keiner wusste, weshalb. Es war kein Schild angebracht, nirgends eine Mitteilung hinterlassen. Der Laden wirkte aufgeräumt, wenn man durchs Fenster sah.
Die Freundin wollte Frau Roth nach der Arbeit einen spontanen Besuch abstatten, um sie etwas aufzumuntern. Sie beeilte sich, zur Wohnung von Frau Roth zu gelangen, und klingelte. »Ich
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