Sie sehen aber gar nicht gut aus!
Schläge pro Minute.
Kennen Sie das Spiel, das einem ab und zu von irgendwelchen Spaßvögeln per E-Mail zugeschickt wird? Ein Programm, nach dessen Start auf dem Bildschirm ein farbenfrohes, chaotisches Bild entsteht, das mit den Worten untertitelt ist: Prüfen Sie Ihre Sehfähigkeit, und suchen Sie den roten Punkt. Natürlich ist man so bescheuert und sucht ihn. Der Punkt ist aber so klein, dass man das Gesicht sehr dicht an den Monitor heranführen muss. Nach 15 Sekunden wird dann ohne Vorwarnung eine widerliche schreiende Fratze eingeblendet. Man erschreckt sich förmlich zu Tode und wünscht dem Absender der Nachricht einen nächtlichen Motorschaden bei minus 30 Grad irgendwo auf einer grottigen Landstraße in Usbekistan.
Genau so ging es mir in diesem Moment. Nur dass ich selbst schuld war. Und Oma Winkler natürlich keine hässliche Fratze war. Wäre ich nicht wie selbstverständlich von ihrem Tod ausgegangen, hätte ich die flachen Lebenszeichen schon sehr viel früher bemerken können.
Frau Winkler befand sich in einer fulminanten diabetischen Ketoazidose mit so hohen Werten, dass diese für unser Blutzuckermessgerät nicht einmal mehr messbar waren.
Frau Winkler brauchte nämlich wie jeder Mensch Insulin, um aus Kohlenhydraten Energie zu gewinnen. Ihre Bauchspeicheldrüse produzierte aber überhaupt kein Insulin mehr. Beim Versuch, die Energie nun ohne Insulin aus Fett zu gewinnen, fallen Abfallstoffe an. Diese Stoffe heißen Ketone und bestehen gewissermaßen aus Säure. Die Folge ist eine Übersäuerung des Körpers, der nun versucht, das Zeug unter anderem über die Ausatemluft loszuwerden – es riecht nach Aceton oder nach faulem, gegorenem Obst. Das erklärte auch den seltsamen süßlichen Geruch in Frau Winklers Zimmer, der an faule gegorene Äpfel oder Nagellackentferner erinnerte.
Wir gaben Frau Winkler Flüssigkeit als Infusion über die Vene und brachten sie ins Klinikum. Der Anruf der Nachbarin war gerade noch zur richtigen Zeit gekommen, denn diese Erkrankung endet unbehandelt immer tödlich. Spätestens nach dem Bewusstseinsverlust durch die Austrocknung und Anschwellung des Gehirns hat der Patient keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu helfen und Hilfe zu rufen.
Frau Winkler lebte nach diesem Ereignis noch einige Jahre in ihrem Häuschen mit der auffälligen blauen Haustür, die nach unserem Einsatz natürlich fachmännisch erneuert worden war.
Durchgebrannt
Während die Dunkelheit die bunten Farben des Tages erlöschen ließ und sich schattengleich über unser Städtchen legte, betrat ich das in eine Moorlandschaft hineingebaute Wachgebäude, das überwiegend aus Wellblech und Rigipsplatten bestand. In dieser Nacht war Oswald mit mir am Start, denn die Grippe hatte Lenny am Vortag erwischt und niedergestreckt. Vor zwei Wochen hatte Oswald sein Debüt bei uns gegeben.
Bei den Kollegen war Oswald keine große Nummer. Sie empfanden ihn als zu weich und seinen Händedruck als zu mädchenhaft. Sein schwarzer Vollbart verdeckte ein Drittel des Gesichtes. Die grünen Augen schienen auf den ersten Blick normal, aber sie konnten einen beunruhigend durchdringend fixieren.
Ich mochte Oswald. Er war ein aufmerksamer, netter Kerl, und jemand hatte es sehr gut mit ihm gemeint, als es um die Verteilung der Intelligenz ging. Er war mit feinen Antennen ausgestattet und besaß eine distinguierte Eloquenz. Manchmal war es eine wahre Freude, ihm nur beim Sprechen zuzuhören. Auch war sein medizinisches Fachwissen brillant. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass man mit ihm in eine unbeherrschbare Situation geriet.
An diesem Abend war Oswald ungewöhnlich schweigsam. Er saß am Küchentisch der Rettungswache, hatte ein selbst gemachtes Käsebrot vor sich auf dem Teller liegen und schaute ins Leere. Der Wasserdampf der Kaffeemaschine nebelte in den Wachraum hinein.
»Warum so schwermütig heute?«, fragte ich und sah von meiner Zeitung auf. Oswalds Blick löste sich aus der Starre.
»In letzter Zeit geht es mir nicht gut.« Ich nahm die Kanne und goss Kaffee in Oswalds Tasse. »Schlaflosigkeit ist mein Problem«, fuhr er fort.
»Und sonst?«, hakte ich nach.
»Ständig werden Gesetze geändert. Das Datenschutzrecht wird gelockert. Der Staat kontrolliert seine Bürger durch geheime Behörden. Ist das etwa an dir vorübergegangen?« Oswald stützte beide Hände auf den Tisch, seine Muskulatur verkrampfte sich. »Ich glaube, dass sie mich auch schon bespitzeln.« Oswald war ursprünglich
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