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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Proportionen zu bekommen.
    Neil Cordova hatte sich nicht über den Ort seiner Vernehmung gewundert, aber das war verständlich. Sie waren in der Norfolk Street in Newark  – dem Bezirksleichenschauhaus. Muse hatte es so arrangiert, damit sie nicht extra herfahren mussten. Sie öffnete die Tür. Cordova versuchte, aufrecht und mit hocherhobenem Kopf zu gehen. Er ging zügig und schwankte nicht, aber seine hängenden Schultern verrieten, wie er sich fühlte; Muse sah, wie sich der Blazer vorne ausbeulte.
    Die Leiche war vorbereitet. Tara O’Neill, die Gerichtsmedizinerin, hatte ihr Gaze um den Kopf gewickelt, so dass man das Gesicht
nicht sah. Das fiel Neil Cordova als Erstes auf  – der Verband wie aus einem Mumienfilm. Er fragte, was das sollte.
    »Das Gesicht ist extrem entstellt«, sagte Muse.
    »Wie soll ich sie dann erkennen?«
    »Wir hoffen an der Figur, durch die Größe, irgendwie.«
    »Ich glaube, es würde mir helfen, wenn ich das Gesicht sehen könnte.«
    »Es würde Ihnen nicht helfen, Mr Cordova.«
    Er schluckte und sah sich die Leiche noch einmal an.
    »Was ist mit ihr passiert?«
    »Sie wurde übel zusammengeschlagen.«
    Er drehte sich zu Muse um. »Glauben Sie, dass meiner Frau etwas Ähnliches passiert ist?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Cordova schloss einen Moment lang die Augen, sammelte sich, öffnete sie wieder und nickte. »Okay.« Er nickte noch ein paarmal. »Okay, ich verstehe.«
    »Ich weiß, dass es nicht leicht ist.«
    »Mir geht’s gut.« Sie sah, dass er feuchte Augen hatte. Er wischte sie sich mit dem Ärmel und sah dabei aus wie ein kleiner Junge, worauf sie ihn beinahe in den Arm genommen hätte. Er drehte sich wieder zur Leiche um.
    »Kennen Sie die Frau?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Lassen Sie sich Zeit.«
    »Das Problem ist, dass sie nackt ist.« Er sah immer noch das bandagierte Gesicht an, als wollte er ihr Schamgefühl nicht verletzen. »Also, wenn ich sie kennen würde, hätte ich sie nie so gesehen. Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Ja. Würde es helfen, wenn wir sie irgendwie bekleiden?«
    »Nein, das ist schon in Ordnung. Es ist bloß …« Er runzelte die Stirn.
    »Was ist?«

    Neil Cordovas Blick verharrte auf dem Hals des Opfers. Dann wanderte er nach unten auf ihre Beine. »Können Sie sie umdrehen?«
    »Auf den Bauch?«
    »Ja. Ich muss ihre Beine von hinten sehen. Ja.«
    Muse sah Tara O’Neill an, die sofort einen Mitarbeiter rief. Vorsichtig drehten sie die Unbekannte auf den Bauch. Cordova ging etwas näher an die Leiche heran. Muse rührte sich nicht, wollte seine Konzentration nicht stören. Tara O’Neill und der Mitarbeiter traten etwas zurück. Wieder wanderte Neil Cordovas Blick ihre Beine hinab, bis er an ihrem Knöchel verharrte.
    Da war ein Muttermal.
    Sekunden vergingen, schließlich sagte Muse: »Mr Cordova?«
    »Ich weiß, wer das ist.«
    Muse wartete. Er fing an zu zittern. Seine Faust schoss zum Mund. Er schloss die Augen.
    »Mr Cordova.«
    »Das ist Marianne«, sagte er. »Guter Gott, das ist Marianne.«

27
    Dr Ilene Goldfarb setzte sich gegenüber von Susan Loriman in die Nische des Diners.
    »Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte Susan.
    Sie hatten überlegt, ob sie sich außerhalb der Stadt treffen sollten, aber am Ende hatte Ilene sich dagegen entschieden. Jeder, der sie sah, würde einfach denken, dass sich zwei Freundinnen zum gemeinsamen Mittagessen verabredet hatten, eine Beschäftigung, für die Ilene weder Zeit noch Lust hatte, zum einen, weil sie dafür zu viele Stunden bei der Arbeit im Krankenhaus verbrachte, und
zum anderen, weil sie fürchtete, eine von den Damen zu werden, die, tja, sich zum Mittagessen verabredeten.
    Selbst als ihre Kinder noch klein waren, hatte die klassische Mutterrolle sie nie gereizt. Sie war nie in Versuchung geraten, ihre Karriere als Ärztin aufzugeben, zu Hause zu bleiben und eine traditionellere Rolle im Leben ihrer Kinder einzunehmen. Ganz im Gegenteil  – sie hatte es kaum erwarten können, dass der Mutterschaftsurlaub zu Ende war und sie, ohne als Rabenmutter dazustehen, wieder zur Arbeit gehen konnte. Ihren Kindern schien das nicht schlecht zu bekommen. Sie war zwar nicht immer zu Hause gewesen, aber in ihren Augen waren sie dadurch erheblich unabhängiger geworden und hatten eine sehr gesunde Lebenseinstellung.
    Das hatte sie sich zumindest eingeredet.
    Aber letztes Jahr hatte man im Krankenhaus ihr zu Ehren eine Party gegeben. Viele ihrer früheren Praktikanten und

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