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abzuspulen, dass die Schüler ihn, den Vortragenden, sofort wieder vergaßen. Er wollte, dass seine Schüler sich »heimisch« fühlten. Sie schrieben eine Art Tagebuch über seinen Unterricht – genau wie er. Er las die Tagebücher der Schüler, und sie durften seins lesen. Er wurde nie laut. Wenn ein Jugendlicher eine gute oder anderweitig erwähnenswerte Leistung erbrachte, machte er ein Häkchen neben seinen Namen. Wenn sich einer danebenbenahm, radierte er eins aus. So einfach war das. Er hielt nichts davon, Jugendliche herauszuheben oder sie an den Pranger zu stellen.
Er sah, wie die anderen Lehrer vor seinen Augen alterten. Ihr Enthusiasmus schwand mit jeder Klasse, die sie unterrichteten. Seiner nicht. Für den Geschichtsunterricht kleidete er sich häufig im Stil der Zeit, über die sie sprachen. Er veranstaltete ungewöhnliche Rätselspiele, bei denen man Matheaufgaben lösen musste, um die nächste Belohnung zu erhalten. Die Klasse durfte ihren eigenen Film drehen. In diesem Raum, im Lewiston Land, passierte so viel Gutes – aber es gab auch diesen einen Tag, an dem er hätte zu Hause bleiben sollen, weil sein grippaler Infekt noch nicht ganz abgeklungen war und er noch Bauchschmerzen hatte, außerdem war die Klimaanlage der Schule ausgefallen, und er hatte sich wahnsinnig schlecht gefühlt und hatte noch Schweißausbrüche gehabt und …
Warum hatte er das gesagt? Gott, es war furchtbar, einem Kind so etwas anzutun.
Er schaltete seinen Computer an. Seine Hände zitterten. Er rief die Schul-Website seiner Frau auf. Das Passwort lautete jetzt JoeLovesDolly.
Eigentlich war mit ihrem E-Mail-Account alles in Ordnung.
Dolly kannte sich nicht besonders gut mit Computern und dem Internet aus. Also hatte Joe sich auf ihre Seite eingeloggt und das Passwort geändert. Darum »funktionierten« ihre E-Mails nicht richtig. Sie hatte das alte – also jetzt falsche – Passwort eingegeben und war daher nicht reingekommen.
In der sicheren Abgeschiedenheit dieses Raums, den er so sehr liebte, sah Joe Lewiston sich an, was für E-Mails sie bekommen hatte. Er hoffte, dass er keine E-Mail von diesem Absender mehr fand.
Aber da war sie.
Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Er konnte Dolly nicht ewig hinhalten, irgendwann würde sie wissen wollen, was mit ihren E-Mails los war. Mehr als ein Tag blieb ihm nicht mehr. Und er glaubte nicht, dass ein Tag ausreichte.
Tia setzte Jill wieder bei Yasmin ab. Falls Guy Novak sich davon gestört fühlte oder er auch nur überrascht war, ließ er sich das nicht anmerken. Tia hatte sowieso keine Zeit, das herauszubekommen. Sie raste zum FBI-Stabsbüro am Federal Plaza 26. Hester Crimstein traf direkt nach ihr ein. Sie trafen sich im Wartezimmer.
»Gehen Sie noch mal kurz Ihre Rolle durch«, sagte Hester. »Sie geben die liebende Frau. Ich bin der alternde Leinwandstar, der den Anwalt gibt.«
»Schon klar.«
»Sie sagen da drinnen kein Wort. Lassen Sie mich das machen.«
»Deshalb hab ich Sie angerufen.«
Hester Crimstein ging zur Tür. Tia folgte ihr. Hester öffnete sie und stürmte hindurch. Mike saß an einem Tisch. Außerdem waren noch zwei Männer im Raum. Einer saß in der Ecke. Der andere
stand leicht gebeugt vor Mike. Als Tia und Hester den Raum betraten, richtete der gebeugte sich auf und sagte: »Guten Tag. Ich bin Special Agent Darryl LeCrue.«
»Das interessiert mich nicht«, sagte Hester.
»Entschuldigung?«
»Nein, eine Entschuldigung kann ich nicht akzeptieren. Ist mein Mandant verhaftet?«
»Diverse Hinweise sprechen dafür, dass …«
»Das interessiert mich nicht. Auf diese Frage kann man mit Ja oder Nein antworten. Ich wiederhole: Ist mein Mandant verhaftet?«
»Wir hoffen, dass es nicht erforderlich …«
»Interessiert mich immer noch nicht.« Hester sah Mike an. »Dr Baye, bitte stehen Sie sofort auf, und verlassen Sie diesen Raum. Ihre Frau begleitet Sie in die Lobby. Da warten Sie auf mich.«
LeCrue sagte: »Einen Moment noch, Ms Crimstein.«
»Sie kennen mich?«
Er zuckte die Achseln. »Ja.«
»Woher?«
»Aus dem Fernsehen.«
»Wollen Sie ein Autogramm?«
»Nein.«
»Wieso nicht? Ist aber auch egal – Sie kriegen sowieso keins. Mein Mandant ist hier erst mal fertig. Wenn Sie ihn in Haft nehmen wollten, hätten Sie das längst getan. Also verlässt er jetzt diesen Raum, und dann werden wir ein nettes Gespräch führen. Falls ich es danach für erforderlich halte, werde ich ihn wieder herholen,
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