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Neil Cordova.
»Wir haben gerade noch was erfahren«, sagte Cope.
»Und was?«
»Marianne Gillespie hat im Travelodge in Livingston ein Zimmer gehabt. Eigentlich sollte sie heute Vormittag auschecken. Dazu kommt die Aussage von einem Hotelangestellten, der gesehen hat, dass Marianne einen Mann in ihr Zimmer mitgenommen hat.«
»Wann?«
»Er war sich nicht ganz sicher, es muss aber vor vier oder fünf Tagen gewesen sein, also ziemlich bald nachdem sie da eingezogen ist.«
Muse nickte. »Das ist ein verdammt großes Ding.«
Cope ließ den Bildschirm nicht aus den Augen. »Vielleicht sollten wir eine Pressekonferenz einberufen. Und dieses Foto von der Frau vergrößern, das wir aus der Überwachungskamera haben. Einfach mal ausprobieren, ob sie jemand erkennt.«
»Könnte man machen. Ich wende mich mit so etwas aber nur sehr ungern an die Öffentlichkeit, solange das nicht unvermeidbar ist.«
Cope betrachtete weiter den Ehemann. Muse überlegte, welche Gedanken ihm dabei wohl durch den Kopf gingen. Cope hatte selbst viele Tragödien durchlebt, darunter auch den Tod seiner ersten Frau. Muse sah sich im Büro um. Auf dem Tisch lagen fünf originalverpackte iPods. »Was ist das?«, fragte sie.
»Das sind iPods.«
»So weit war ich auch schon. Ich wollte wissen, warum die da liegen.«
Cope beobachtete Cordova weiter. »Fast hoffe ich, dass er das war.«
»Cordova? Der war’s nicht.«
»Ich weiß. Man spürt ja fast, wie er leidet.«
Schweigen.
»Die iPods sind für die Brautjungfern«, sagte Cope.
»Nett.«
»Vielleicht sollte ich mit ihm reden.«
»Mit Cordova?«
Cope nickte.
»Das könnte helfen«, sagte sie.
»Lucy steht auf traurige Lieder«, sagte er. »Wussten Sie doch, oder?«
Obwohl sie auch eine Brautjungfer war, kannte Muse Lucy weder besonders lange, noch besonders gut. Sie nickte trotzdem, was Cope aber nicht sah, weil er immer noch auf den Monitor starrte.
»Ich stelle ihr jeden Monat eine CD zusammen. Ziemlich kitschig, ich weiß. Aber sie steht drauf. Also suche ich Monat für Monat nach den traurigsten Songs, die ich finden kann. So richtig herzzerreißende Lieder. In diesem Monat sind zum Beispiel Congratulations von Blue October und Seed von Angie Aparo dabei.«
»Die sagen mir beide nichts.«
Er lächelte. »Das wird sich ändern. Wir laden die kompletten Playlists auf den iPod.«
»Klasse Idee«, sagte sie. Muse spürte einen Stich. Cope stellte für die Frau, die er liebte, CDs zusammen. Was war die doch für ein Glückspilz.
»Ich hab mich immer gefragt, was Lucy an diesen Songs findet. Also, sie setzt sich immer in ein dunkles Zimmer, hört sie sich an und heult. So reagiert sie auf diese Musik. Ich hab das erst nicht verstanden, bis ich vor einem Monat ein Stück von Missy Higgins gehört habe. Kennen Sie die?«
»Nein.«
»Sie ist fantastisch. Die Musik haut einen um. In dem einen
Stück erzählt sie von einem Exlover, und dass sie mit dem Gedanken nicht klarkommt, dass eine andere ihn berührt, obwohl sie weiß, dass sie das muss.«
»Traurig.«
»Genau. Dabei ist Lucy doch gerade glücklich, stimmt’s? Das läuft richtig gut zwischen uns. Wie haben uns endlich gefunden und heiraten. Warum hört sie sich dann immer noch dieses herzzerreißende Zeug an?«
»Ist das eine Frage?«
»Nein, Muse. Ich will Ihnen etwas erklären. Ich hatte das wie gesagt bis vor Kurzem auch nicht begriffen, aber das funktioniert ungefähr so: Diese traurigen Lieder sind eine sichere Quelle, sich Schmerzen zuzufügen. Es ist Ablenkung, dabei aber ganz kontrolliert. Und vielleicht kann sie sich dabei vorstellen, dass echte Schmerzen auch so seien. Was natürlich nicht stimmt. Und Lucy weiß das auch. Auf echte Schmerzen kann man sich nicht vorbereiten. Die zerreißen einen einfach.«
Sein Telefon summte. Cope wandte den Blick vom Bildschirm ab und griff zum Hörer. »Copeland«, meldete er sich. Dann sah er Muse an. »Sie haben Marianne Gillespies nächste Angehörige ausfindig gemacht. Da müssen Sie wohl hin.«
30
Als die beiden Mädchen allein im Schlafzimmer waren, fing Yasmin an zu weinen.
»Was ist los?«, fragte Jill.
Yasmin deutete auf ihren Computer und sagte: »Die Leute sind voll fies.«
»Was ist passiert?«
»Ich zeig’s dir. Das ist total gemein.«
Jill nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben ihre Freundin. Sie knabberte an einem Fingernagel.
»Yasmin?«
»Was ist?«
»Ich mach mir Sorgen wegen meinem Bruder. Und mit meinem Dad stimmt auch was nicht.
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