Sie sehen dich
entlang. Der graue Teppichboden dämpfte seine Schritte. Die schlichten Kunstdrucke an den Wänden beruhigten das Auge und waren dabei so unpersönlich, wie man sie auch in einer Hotelkette der Mittelklasse erwarten konnte. Ilene und er hatten das Büro so eingerichtet, dass nichts ins Auge fiel, sondern alles ganz leise kundtat: »Hier geht es nur um den Patienten.« Sie hatten auch keine persönlichen Gegenstände in ihren Büros – keine Familienfotos, keine von den Kindern gebastelten
Bleistifthalter oder so etwas – sondern nur ihre Diplome und Urkunden aufgehängt, weil das die Leute offensichtlich beruhigte.
Viele Eltern kamen mit todkranken Kindern zu ihnen. Die wollten dann keine Bilder von anderen gesunden und lächelnden Kindern angucken. Man will das dann einfach nicht.
»Hey, Doc Mike.«
Er drehte sich um. Hal Goldfarb, Ilenes Sohn, stand hinter ihm. Er war im Abschlussjahr auf der Highschool, also zwei Jahre über Adam. Er wollte Medizin studieren und Princeton hatte ihn schon vor der Abschlussprüfung angenommen. Daraufhin hatte er sein Schulprojekt so gewählt, dass er dafür ganz offiziell drei Vormittage bei ihnen ein Praktikum ableisten konnte.
»Hey, Hal. Wie läuft’s in der Schule?«
Er lächelte Mike zu. »Locker.«
»Das Abschlussjahr nachdem du deine Zulassung zum College schon hast – viel lockerer geht’s kaum.«
»Genau.«
Hal trug Khakis und ein blaues Hemd, worauf Mike der Kontrast zu Adams Grufti-Schwarz noch einmal schmerzlich bewusst wurde und er einen kurzen Anflug von Neid verspürte. Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Hal: »Wie geht’s Adam?«
»Ganz gut.«
»Ich hab ihn länger nicht mehr gesehen.«
»Vielleicht solltest du ihn mal anrufen«, sagte Mike.
»Ja, gute Idee. Wär nett, einfach mal ein bisschen abzuhängen.«
Schweigen.
»Ist deine Mom in ihrem Büro?«, fragte Mike.
»Ja. Gehen Sie einfach rein.«
Ilene saß hinter ihrem Schreibtisch. Sie war eine kleine Frau und abgesehen von ihren tatzenartigen Fingern fast zierlich gebaut. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden, und mit der Hornbrille lag sie genau auf der Grenze zwischen altbacken und modisch.
»Hey«, sagte Mike.
»Hey.«
Mike hielt den rosafarbenen Haftzettel in die Luft. »Was gibt’s?«
Ilene seufzte. »Wir haben ein Riesenproblem.«
Mike setzte sich. »Mit wem?«
»Mit deinem Nachbarn.«
»Loriman?«
Ilene nickte.
»Negatives Testergebnis bei der Gewebeprobe?«
»Ein ungewöhnliches Testergebnis«, sagte sie. »Aber früher oder später musste das ja mal passieren. Eigentlich bin ich überrascht, dass es bei uns das erste Mal ist.«
»Verrätst du mir jetzt, worum es geht?«
Ilene Goldfarb nahm ihre Brille ab. Sie steckte einen der Bügel in den Mund und kaute darauf herum. »Wie gut kennst du die Familie?«
»Sie wohnen nebenan.«
»Seid ihr eng befreundet?«
»Nein. Warum die Fragen?«
»Wir könnten«, sagte Ilene, »vor einem ethischen Dilemma stehen.«
»Wieso?«
»Dilemma ist vielleicht das falsche Wort.« Ilene blickte zur Seite, sprach jetzt eher mit sich selbst als mit Mike. »Wir könnten auf eine etwas unscharf definierte ethische Grenze zusteuern.«
»Ilene?«
»Hmm.«
»Wovon sprichst du?«
»Lucas Lorimans Mutter ist in einer halben Stunde hier«, sagte sie.
»Ich hab sie gestern gesehen.«
»Wo?«
»In ihrem Garten. Sie tut oft so, als wäre sie mit Gartenarbeit beschäftigt, wenn ich nach Hause komme.«
»Klingt logisch.«
»Was meinst du damit?«
»Kennst du ihren Mann?«
»Dante? Natürlich.«
»Und?«
Mike zuckte die Achseln. »Was ist los, Ilene?«
»Es geht um Dante«, sagte sie.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist nicht der leibliche Vater des Jungen.«
Jetzt war es raus. Mike saß einen Moment lang reglos da.
»Soll das ein Witz sein?«
»Klar, wie immer. Du kennst mich ja – Frau Doktor Scherzkeks. Der war doch prima, oder?«
Mike ließ es sacken. Er fragte nicht, ob sie sich sicher war oder weitere Tests machen wollte. Diese Möglichkeiten hatte sie auf jeden Fall schon ausgeschlossen. Ilene hatte Recht – das Überraschendste daran war, dass es ihnen zum ersten Mal passierte. Die genetische Abteilung lag zwei Etagen unter ihnen. Einer der Ärzte hatte Mike einmal von stichprobenartigen Tests in der Bevölkerung erzählt, die ergeben hatten, dass über zehn Prozent der Männer ohne es zu wissen Kinder erzogen, die nicht ihre eigenen waren.
»Möchtest du
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