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funktionierte.
Die Bilder erschienen verkleinert auf dem Bildschirm. In der Kopfzeile stand, dass es 127 Fotos waren. Sie sah sich die Thumbnails an, bis sie das gesuchte Foto fand. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie Schwierigkeiten hatte, den Mauszeiger über das Bild zu bekommen. Als sie es endlich geschafft hatte, drückte sie die linke Taste.
Das Foto erschien in voller Größe.
Sie starrte es nur an.
Spencer lächelte, aber es war das traurigste Lächeln, dass sie je gesehen hatte. Er schwitzte. Sein Gesicht glänzte wie bei einem Betrunkenen. Er wirkte niedergeschlagen und verwirrt. Er trug das schwarze T-Shirt, das er auch an seinem letzten Abend getragen hatte. Seine Augen waren rot unterlaufen – vielleicht vom Alkohol oder von Drogen, aber auf jeden Fall auch vom Blitz der Kamera. Eigentlich hatte Spencer hübsche blaue Augen gehabt, aber auf Blitzlichtfotos sah er meistens aus wie der Teufel. Er stand im Freien, also musste es irgendwann abends oder nachts gemacht worden sein.
In jener Nacht.
Spencer hatte einen Drink in der Hand, und da, an derselben Hand, war auch die Handgelenkmanschette.
Sie erstarrte. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben.
Das Foto war in der Nacht entstanden, in der Spencer gestorben war.
Und als sie den Hintergrund des Fotos betrachtete und die Menschen sah, die dort saßen, wurde ihr noch etwas klar.
Spencer war gar nicht allein gewesen.
7
Wie an fast jedem Wochentag in den letzten zehn Jahren wachte Mike um fünf Uhr morgens auf. Er fuhr über die George Washington Bridge nach New York und war um sieben im Transplantationszentrum des New York Presbyterian Hospital.
Er warf den weißen Kittel über und machte seine Visite. Manchmal drohte das zur Routine zu werden. Es bot auch wirklich nicht viel Abwechslung, aber Mike machte sich immer wieder bewusst, wie wichtig das für die Menschen war, die im Bett lagen. Sie lagen im Krankenhaus. Allein das jagte ihnen Angst ein und machte sie verletzlich. Sie waren krank. Sie konnten sterben, und die meisten glaubten, dass nur ihr Arzt zwischen ihnen und noch größerem Leid, zwischen ihnen und dem Tod stand.
Wer würde da nicht einen leichten Gotteskomplex bekommen?
Solange es sich im Rahmen hielt, fand Mike das sogar ganz hilfreich. Schließlich war man für die Patienten von überragender Bedeutung. Also sollte man sich auch so verhalten.
Einige Ärzte rauschten nur durch die Krankenzimmer. Gelegentlich hätte er das auch gern getan. Er hatte aber auch festgestellt, dass man bei jedem Patienten nur ein oder zwei Minuten länger brauchte, wenn man sein Bestes gab. Also blieb er stehen, hörte zu, hielt eine Hand, wenn es verlangt wurde, oder gab sich etwas distanziert – je nachdem was der Patient wollte oder wie Mike dessen Bedürfnisse einschätzte.
Um 9 Uhr saß er dann an seinem Schreibtisch. Die ersten Patienten waren schon da, und Lucille, seine auf diesem Gebiet äußerst kompetente Krankenschwester, bereitete sie auf das Gespräch mit ihm vor. So hatte er gut zehn Minuten Zeit, um sich die Diagramme und Testergebnisse anzusehen, die im Lauf der Nacht reingekommen waren. Dabei fiel ihm der Nachbarsjunge wieder ein, worauf er sofort im Computer nach dem Test von Loriman schaute.
Es waren noch keine Ergebnisse da.
Das war seltsam.
Mike entdeckte einen rosa Haftzettel an seinem Telefon. Er sah ihn an.
Wir müssen uns unterhalten.
Ilene
Ilene Goldfarb war seine Praxispartnerin in der Transplantationsklinik und die Leiterin der Transplantationschirurgie im New York Presbyterian Hospital. Kennen gelernt hatten sie sich in ihrer gemeinsamen Zeit als Assistenzärzte in der Transplantationschirurgie, und jetzt wohnten sie im gleichen Ort. Mike würde Ilene als eine Freundin bezeichnen, wenn auch nicht als eine besonders enge, ein Umstand, der sich durchaus positiv auf ihre Zusammenarbeit auswirkte. Sie wohnten etwa drei Kilometer voneinander entfernt, ihre Kinder besuchten die gleichen Schulen, ansonsten hatten sie jedoch kaum gemeinsame Interessen und sahen sich selten privat, aber sie vertrauten und respektierten sich in allen beruflichen Angelegenheiten hundertprozentig.
Wollen Sie eine Empfehlung Ihres Freundes überprüfen, der selbst Arzt ist? Dann stellen Sie ihm diese Frage: Wenn dein Kind krank wäre, zu welchem Arzt würdest du es schicken?
Mikes Antwort hätte Ilene Goldfarb gelautet. Und damit war eigentlich alles über ihre Fähigkeiten als Ärztin gesagt.
Mike ging den Flur
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