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anders als sonst. Irgendwie nahm er dem Tod etwas von seiner Tragik, weil sofort eine größere Distanz zu spüren war. Die Leute gingen davon aus, dass Spencer unglücklich und auch irgendwie gebrochen war. Und da war es natürlich besser, wenn so ein gebrochener Mensch aus dem Leben schied, als wenn es einen gesunden getroffen hätte. Und das Schlimmste daran war für Betsy, dass diese schrecklich rationale Erklärung auch noch ein Körnchen Wahrheit enthielt. Wenn man von einem Kind hörte, das sowieso schon fast am Verhungern war, bevor es irgendwo im afrikanischen Dschungel starb, war das weit weniger tragisch als die Sache mit dem hübschen kleinen Mädchen aus der Parallelstraße, das an Krebs erkrankte.
Das Erschreckendste daran war, dass sich alles relativieren ließ.
Sie gab die Adresse der MySpace-Internetseite ein: www.myspace.com/Spencerhillmemorial . Ein paar Tage nach Spencers Tod hatten seine Klassenkameraden die Seite eingerichtet. Sie enthielt Fotos, Kollagen und Kommentare. An der Stelle, wo normalerweise das Foto des Teilnehmers war, hatten sie das Bild einer brennenden Kerze eingestellt.
Dazu lief Broken Radio von Jesse Malin mit etwas Unterstützung von Bruce Springsteen. Das war einer von Spencers Lieblingssongs gewesen. Auch das Zitat neben der Kerze stammte aus diesem Song: »The angels love you more than you know.«
Betsy hörte ein bisschen zu.
Nach Spencers Tod hatte Betsy viele Nächte auf dieser Internetseite verbracht und hatte sich alles angeguckt. Sie hatte Kommentare von Jugendlichen gelesen, die sie gar nicht kannte. Sie hatte sich die vielen Fotos aus allen Lebensphasen ihres Sohns angesehen. Nach einer Weile war ihre Stimmung allerdings umgeschlagen.
Die hübschen Schülerinnen, die die Seite eingerichtet hatten und sich jetzt auch im Ruhm des verstorbenen Spencers sonnten, hatten ihn kaum eines Blickes gewürdigt, als er noch am Leben gewesen war. Die Anteilnahme auf dieser Seite reichte Betsy nicht. Sie kam zu spät und war zu halbherzig. Jetzt behaupteten alle, dass sie Spencer vermissten, dabei hatten ihn nur wenige wirklich gut gekannt.
Die meisten Kommentare lasen sich nicht wie Grabinschriften, sondern wie hastige Kritzeleien im Jahrbuch eines Verstorbenen:
»Ich werde die Sportstunden bei Mr Myers nie vergessen …«
Das war in der siebten Klasse gewesen. Vor drei Jahren.
»Diese Touch-Football-Spiele, bei denen Mr V Quarterback sein wollte …«
Fünfte Klasse.
»Wir haben alle zusammen beim Green-Day-Konzert gechillt …«
Achte Klasse.
So wenig aus der letzten Zeit. So wenig, was wirklich von Herzen kam. Die Trauer schien vor allem der Selbstdarstellung zu dienen – es war die öffentliche Zurschaustellung der Trauer derjenigen, die an und für sich gar nicht so sehr trauerten, sondern für die der Tod ihres Sohnes nur eine kleine Hürde auf dem Weg zum College und einer guten Stelle war, zwar durchaus eine Tragödie, aber eine, die sich vor allem im Lebenslauf gut machte, ähnlich wie die Mitgliedschaft in einer Wohltätigkeitsorganisation oder die Arbeit als Schatzmeister des Schülerparlaments.
Spencers richtige Freunde – Clark, Adam und Olivia – hatten so gut wie gar nichts zu der Seite beigetragen. Aber auch das war wohl normal. Echte Trauer fand nicht in der Öffentlichkeit statt – wenn etwas wirklich wehtat, behielt man es für sich.
Sie war seit drei Wochen nicht mehr auf der Internetseite gewesen. Sie hatte sich in der Zwischenzeit nicht groß verändert. Auch das war ganz normal, besonders bei Jugendlichen. Sie waren mit anderen Dingen beschäftigt. Betsy guckte sich die Fotos
an. Sie waren zu einer Diashow zusammengefasst, ein Bild rotierte nach vorne, blieb dort einen Moment lang stehen, dann sah es so aus, als würde es auf einen großen Haufen geworfen und das nächste kam nach vorn.
Als Betsy die Bilder ansah, schossen ihr Tränen in die Augen.
Unter den Fotos waren auch einige sehr alte von der Grundschule in Hillside. Viele aus der ersten Klasse bei Mrs Roberts. Ein paar aus der dritten bei Mrs Rohrback. In der vierten hatten sie Mr Hunt gehabt. Auch ein Bild von der Basketballklassenmannschaft war darunter. Ein Siegerfoto, auf dem Spencer sehr begeistert wirkte. Er hatte sich in der Woche vor dem Spiel am Handgelenk verletzt – nichts Ernstes, nur eine leichte Verstauchung, die Betsy dann verbunden hatte. Sie wusste sogar noch, wo sie den elastischen Verband gekauft hatte. Und auf dem Foto hatte Spencer genau
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