Sie sehen dich
Ilene an. Sie nickte kurz.
»Sehr schlimm«, sagte Mike.
Als er das sagte, sah er Susan Loriman an. Susan wandte den Blick ab. Sie sprachen noch zehn Minuten über die verschiedenen Möglichkeiten, dann gingen die Lorimans. Mike setzte sich auf den Stuhl, auf dem Dante gesessen hatte, und drehte die Handflächen zum Himmel. Ilene gab vor, mit dem Ordnen der Akten beschäftigt zu sein.
»Was ist los?«, fragte Mike.
»Hätte ich es ihnen sagen sollen?«
Mike antwortete nicht.
»Meine Aufgabe ist es, den Sohn zu behandeln. Er ist mein Patient. Nicht der Vater.«
»Also hat der Vater hier keine Rechte?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Du hast medizinische Tests durchgeführt. Dabei hast du etwas erfahren, und das hast du dem Patienten vorenthalten.«
»Nicht dem Patienten«, entgegnete Ilene. »Mein Patient ist Lucas Loriman, der Sohn.«
»Also vergessen wir das, was wir wissen?«
»Beantworte mir eine Frage. Wenn ich durch irgendeinen Test feststellen würde, dass Mrs Loriman ihren Mann betrügt, müsste ich ihm das sagen?«
»Nein.«
»Und was wäre, wenn ich herausfinden würde, dass sie mit Drogen handelt oder Geld klaut?«
»Das ist jetzt ziemlich weit hergeholt, Ilene.«
»Wirklich?«
»Es geht hier nicht um Geld oder Drogen.«
»Ich weiß, aber in beiden Fällen ist es für die Gesundheit meines Patienten unerheblich.«
Mike dachte darüber nach. »Nehmen wir mal an, du hättest bei Dante Lorimans Test ein gesundheitliches Problem entdeckt. Sagen wir, ein Lymphom. Hättest du ihm das gesagt?«
»Selbstverständlich.«
»Aber wieso? Gerade hast du noch gesagt, dass er nicht dein Patient ist. Also geht es dich nichts an.«
»Ach, komm, Mike. Das ist was anderes. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass mein Patient – Lucas Loriman – wieder gesund wird. Dazu gehört auch die geistige und seelische Gesundheit. Schließlich schicken wir unsere Patienten vor einer Transplantation unter anderem zu einer psychologischen Beratung. Und wozu? Weil wir uns Sorgen machen um ihre geistige und seelische Gesundheit. Wenn wir im Haus der Lorimans ein Riesendurcheinander verursachen, wird das der Gesundheit meines Patienten kaum zuträglich sein. Und das ist auch schon alles.«
Beide sammelten sich einen Moment lang.
»So einfach ist das nicht«, sagte Mike.
»Ich weiß.«
»Diese Geschichte wird uns stark belasten.«
»Darum habe ich sie mit dir geteilt.« Ilene breitete die Arme aus und lächelte. »Wieso soll ich die Einzige sein, die sich nachts schlaflos im Bett herumwälzt?«
»Du bist eine tolle Partnerin.«
»Mike?«
»Ja.«
»Wenn es um dich ginge – wenn ich bei dir einen solchen Test durchgeführt und festgestellt hätte, dass Adam nicht dein leiblicher Sohn ist, würdest du das dann nicht erfahren wollen?«
»Adam soll nicht mein Sohn sein? Hast du dir mal seine riesigen Ohren angeguckt?«
Sie lächelte. »Ich wollte dir nur etwas erklären. Also, würdest du es wissen wollen?«
»Ja.«
»Auf jeden Fall und ohne jeden Zweifel?«
»Du weißt doch, dass ich ein Kontrollfreak bin. Ich muss immer alles wissen.«
Mike brach ab.
»Was ist?«, fragte sie.
Er lehnte sich zurück. »Wollen wir weiter um den heißen Brei herumreden?«
»Das hatte ich eigentlich vor, ja.«
Mike wartete.
Ilene Goldfarb seufzte. »Okay, nun sag’s schon.«
»Unser erstes Credo lautet tatsächlich ‹Wir dürfen keinen Schaden anrichten.‹«
Sie schloss die Augen. »Ja, ja.«
»Wir haben keinen wirklich passenden Spender für Lucas Loriman«, sagte Mike. »Den suchen wir noch.«
»Ich weiß.« Ilene schloss die Augen und sagte: »Und da käme zuerst einmal der leibliche Vater in Frage.«
»Genau. Da hätten wir die besten Chancen auf Übereinstimmung.«
»Wir müssen ihn testen. Das hat erste Priorität.«
»Wir können ihn nicht einfach außer Acht lassen«, sagte Mike. »Auch wenn wir das gern möchten.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Ilene.
»Ich weiß es auch nicht. Eigentlich haben wir gar keine Wahl.«
Betsy Hill stand auf dem Parkplatz der Highschool, um Adam abzufangen.
Sie sah sich in der Mom Row um, dem Rand der Maple Avenue, an dem die Mütter – natürlich waren auch ein paar Väter darunter, aber die waren eher die Ausnahmen, die die Regel bestätigten – allein in ihren Autos saßen oder sich in kleinen Gruppen auf der Straße versammelt hatten und darauf warteten, dass die Schultore geöffnet wurden, damit sie ihren
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