Sie sehen dich
hatte keinen Sinn. Er würde es ihnen nicht sagen. Er beschützte sie,
weil ihre elfjährigen Seelen die Wahrheit noch nicht verkraftet hätten – oder so ein Blödsinn, den Erwachsene sich immer zur Rechtfertigung ihrer Lügen zurechtlegten.
»Ich muss noch mal kurz weg«, sagte Mr Novak.
»Wo gehst du hin?«, fragte Yasmin.
»Ins Büro. Ich muss ein paar Unterlagen holen. Aber Beth ist gerade vorbeigekommen. Sie sieht unten fern, falls ihr was braucht.«
Yasmin grinste. »Sie ist gerade vorbeigekommen?«
»Ja.«
»Als ob sie nicht hier geschlafen hätte? Stimmt’s, Dad? Für wie alt hältst du uns?«
Er runzelte die Stirn. »Das reicht jetzt aber, junge Dame.«
»Wenn du meinst.«
Er schloss die Tür. Jill setzte sich aufs Bett. Yasmin rückte näher an sie heran.
»Was glaubst du, was da passiert ist?«, fragte Yasmin.
Jill antwortete nicht, aber die Richtung, die ihre Gedanken nahmen, gefiel ihr absolut nicht.
Cope betrat Muses Büro. Er sah ziemlich flott aus in seinem neuen blauen Anzug, dachte Muse.
»Geben Sie heute noch eine Pressekonferenz?«, fragte Muse.
»Wie kommen Sie drauf?«
»Der flotte Anzug.«
»Sagt man noch flott?«
»Das sollte man auf jeden Fall, wenn Sie schon so aussehen.«
»Auch wieder wahr. Ich bin der Inbegriff von Flottheit. Fast schon eine Flotte. Eine Flottille. Die flotte Lotte.«
Loren Muse hielt ein Blatt Papier hoch. »Gucken Sie mal, was ich gerade reingekriegt habe.«
»Was ist das?«
»Frank Tremonts Abschiedsgesuch. Er will in den Ruhestand gehen.«
»Ein herber Verlust.«
»Genau.«
Muse sah ihn an.
»Diese Nummer da gestern mit dem Reporter.«
»Was ist damit?«
»Ein bisschen herablassend fand ich das schon«, sagte Muse. »Sie hätten mich nicht zu retten brauchen.«
»Ich wollte Sie nicht retten. Wenn überhaupt, hatte ich Ihnen eine Falle gestellt.«
»Wieso?«
»Entweder hatten Sie was in der Hand, das Tremont aus den Socken haut, oder eben nicht. Es war klar, dass einer von Ihnen ziemlich dumm dasteht.«
»Es ging also um ihn oder mich?«
»Genau. Tremont ist ein Schwätzer und bringt viel Unruhe in die Abteilung. Ich wollte ihn aus ganz eigennützigen Motiven loswerden.«
»Und wenn ich nichts in der Hand gehabt hätte?«
Cope zuckte die Achseln. »Dann hätten Sie jetzt vielleicht Ihr Abschiedsgesuch eingereicht.«
»Und das Risiko sind Sie einfach eingegangen.«
»Welches Risiko? Tremont ist faul und ein Schwachkopf. Wenn er zu besseren Ergebnissen als Sie gekommen wäre, hätten Sie es nicht verdient, die Abteilung zu leiten.«
»Eins zu null für Sie.«
»Jetzt reicht es aber auch. Sie haben mich doch nicht angerufen, damit wir uns über Frank Tremont unterhalten. Also, was gibt’s?«
Sie erzählte ihm alles über das Verschwinden von Reba Cordova – vom Zeugen bei Target , dem Lieferwagen und dem am Ramada Hotel in East Hanover geparkten Acura. Cope saß ihr gegenüber und sah sie mit grauen Augen an. Er hatte tolle Augen,
solche, die ihre Farbe je nach Lichteinfall veränderten. Loren Muse war ein bisschen in Paul Copeland verknallt, andererseits war sie auch ein bisschen in seinen Vorgänger verknallt gewesen, der deutlich älter gewesen war und vollkommen anders ausgesehen hatte. Vielleicht stand sie einfach auf Autoritätspersonen.
Es war aber eigentlich nur eine harmlose Schwärmerei, die auf Respekt basierte, keine tiefe Sehnsucht. Sie hatte keine schlaflosen Nächte, verzehrte sich nicht nach ihm, und er spielte weder in sexuellen noch irgendwelchen anderen Fantasien eine Rolle. Sie schätzte Paul Copelands Attraktivität, ohne ihn zu begehren. Sie suchte in jedem Mann, mit dem sie ausging, nach dieser Eigenschaft, fand sie aber weiß Gott nie.
Muse kannte die Vergangenheit ihres Chefs, die furchtbaren Zeiten, die er durchgemacht hatte, und wusste daher, dass die Enthüllungen der letzten Zeit für ihn die Hölle gewesen sein mussten. Sie hatte ihm sogar geholfen, diese schweren Zeiten zu überstehen. Wie so viele Männer hatte auch Paul Copeland im Leben ein paar heftige Schrammen abbekommen, aber sie standen ihm. Viele Politiker – und er war Politiker, er war in einer öffentlichen Wahl in dieses Amt gewählt worden – waren zwar ehrgeizig, hatten aber nie gelitten. Cope schon. Er war dadurch einfühlsamer als viele seiner Kollegen, aber auch nicht so schnell bereit, die typischen Rechtfertigungen der Verteidigung zu akzeptieren.
Muse führte sämtliche ihnen bekannte Fakten über Reba
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