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Jahren gemacht hatten, und so diese »Was ist übrig geblieben«-Zweifel direkt aus seinem Kopf zu bumsen. Aber sie kriegte den Hintern einfach nicht hoch. Es ging einfach nicht. Also las sie die Zeitung, schlürfte ihren Kaffee und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Hey, Mom.«
Hal öffnete den Kühlschrank und trank direkt aus der Orangensaftpackung. Früher hätte sie ihm das verboten – sie hatte es jahrelang versucht –, aber Hal war der Einzige, der im Haus Orangensaft trank, und auf solche Dinge wird viel zu viel Zeit verschwendet. Er zog bald aus und ging zur Uni. Ihre gemeinsame Zeit neigte sich dem Ende zu. Warum sollten sie den Rest mit solchem Unsinn belasten?
»Hey, Großer. Warst du lange unterwegs?«
Er trank weiter, zuckte dann die Achseln. Er trug Shorts und eine graues T-Shirt. Unter seinem Arm klemmte ein Basketball.
»Spielst du in der Highschool-Sporthalle?«, fragte sie.
»Nein, in der Heritage.« Dann trank er noch einen Schluck und fragte: »Bei dir alles okay?«
»Bei mir? Klar. Wieso nicht?«
»Deine Augen sind rot.«
»Mir geht’s gut.«
»Außerdem hab ich diese Typen hier gesehen.«
Er meinte die FBI-Agenten. Sie waren hier gewesen und hatten Fragen über ihre Praxis gestellt, über Mike, und auch über andere Dinge, die sie einfach nicht einordnen konnte. Normalerweise hätte sie mit Herschel darüber gesprochen, aber der war damit beschäftigt, sich auf den Rest seines Lebens vorzubereiten, den er ohne sie verbringen wollte.
»Ich dachte, du warst unterwegs«, sagte sie.
»Ich hab Ricky später abgeholt und bin dabei noch mal hier vorbeigekommen. Die haben ja wie Cops ausgesehen, oder so.«
Ilene Goldfarb schwieg.
»Waren das Cops?«
»Das ist nicht so wichtig. Mach dir darüber keine Sorgen.«
Er hakte nicht nach, tippte den Ball auf und verschwand damit durch die Tür. Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon. Sie sah auf die Uhr. Acht. Um diese Zeit konnte es eigentlich nur die Praxis sein, dabei hatte sie gar keinen Bereitschaftsdienst. Aber die Telefonisten machten öfter mal Fehler und leiteten die Nachrichten zum falschen Arzt weiter.
Sie sah aufs Display und las LORIMAN.
Ilene nahm den Hörer ab und meldete sich.
»Hier ist Susan Loriman«, sagte eine Stimme.
»Ja, guten Morgen.«
»Ich will nicht mit Mike über diese …«, Susan Loriman suchte einen Moment lang nach dem richtigen Wort, »… diese Situation sprechen. Über die Spendersuche wegen Lucas.«
»Dafür habe ich Verständnis«, sagte sie. »Meine nächste Sprechstunde ist am Dienstag, wenn Sie wollen …«
»Können wir uns heute treffen?«
Ilene wollte protestieren. Einer Frau, die sich so in Schwierigkeiten gebracht hatte, wollte sie im Moment wirklich nicht helfen. Aber dann bremste sie sich und rief sich ins Gedächtnis, dass es ja nicht um Susan Loriman ging. Es ging um ihren Sohn, Ilenes Patienten Lucas.
»Ja, ich denke, das können wir machen.«
23
Bevor Betsy Hill klopfen konnte, hatte Tia die Tür schon geöffnet und fragte ohne jede Begrüßung: »Kannst du mir sagen, wo Adam ist?«
Betsy Hill erschrak, als sie die Frage hörte. Ihre Augen weiteten sich, und sie blieb stehen. Als sie Tias Miene sah, schüttelte sie schnell den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Was willst du dann hier?«
Betsy Hill schüttelte immer noch den Kopf. »Adam ist verschwunden?«
»Ja.«
Betsy wurde blass. Tia hatte nur eine sehr vage Vorstellung von den schrecklichen Erinnerungen, die sie mit dieser Frage bei Betsy heraufbeschwor. Hatte Tia nicht auch schon daran gedacht, wie sehr das Ganze dem ähnelte, was Spencer passiert war?
»Tia?«
»Ja.«
»Hast du schon auf dem Dach der Highschool nachgeguckt?«
Da hatte man Spencer gefunden.
Tia sagte nichts, es gab nichts zu diskutieren. Sie rief Jill zu, dass sie gleich wieder zurückkäme – Jill war fast alt genug, um eine Weile allein bleiben zu können, außerdem ließ es sich nicht ändern – dann rannten die beiden Frauen zu Betsy Hills Wagen.
Betsy fuhr. Tia saß stocksteif auf dem Beifahrersitz. Sie waren zwei Blocks gefahren, als Betsy sagte: »Ich habe gestern mit Adam gesprochen.«
Tia hörte die Worte, sie drangen aber nicht ganz zu ihr durch. »Was?«
»Hast du von der Internetseite gehört, die ein paar Mitschüler im Gedenken an Spencer bei MySpace eingerichtet haben?«
Tia versuchte, gegen den Nebel anzukämpfen und zuzuhören.
Die Internetseite in Gedenken an Spencer
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